FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 137

Martin Speicher

 

Baden-Baden ’75


Marañao von Rava
Das GLOBE UNITY ORCHESTRA spielt Marañao von Rava. Auf dem Tisch der Brief von Gebers, ob da Lust, Zeit etc. wäre, was zu schreiben. Verdacht, archivverstaubte Aufnahmen sollen recycelt werden zum Nachruhm. Tief Luft holen, wie die Belegschaft vom GUO, warm blasen - auf sich zukommen lassen. Na, und Schlippenbach: kein Vertun, präzise, definitiv und ohne Tändelei - so geht‘s los und das ist klar. Und gut.
Ein Konzert lang berichtet das GUO aus der Produktion. Nach dem 60er-Jahre-Aufriss ins Neuland hatte das GUO das Terrain erkundet, musikalisch-konstruktiv und sehr lustvoll, kopfert und bauchert, fähig, unterschiedliche Konzeptionen der Organisation von Dickköpfen zu realisieren. Ruft da wer „brachial“?
U-487 von Braxton
GUO war auch bodycheck, das Spüren von Körpern, die Vibrationen, die Dauer der Energie; das alles musste sein, um aus der Verklemmung der Jahrzehnte und Jahrhunderte...na ja, ihr wisst. Und wo Varèse und andere solche Enthemmungen mühsam denen im Orchester unters Notenjoch schrieben, hat sich plötzlich (ich weiss, ‚plötzlich‘ geht gar nichts!) Mitte der 60er eine andere Produktionsform durchgesetzt und vor allem: ABGESETZT. Abgesetzt von der oft schier unerträglichen Einspruchslosigkeit gegens Vorgeschriebene, abgesetzt aber auch von der Chorusmanie und Geschmackvollität des Jazz. Es wurde: Musik im Selbstversuch.
Jeder wusste was er brauchte oder suchte und später wussten auch alle, ob sie’s gefunden hatten.
Jahrmarkt von Kowald
Jeder Einzelne im GUO: eine Perle. Ende der Metapher. Perlen sind hart, vermischen sich nicht und lassen sich in der Regel hängen. Nichts davon im GUO: den Collagenspaß von Kowalds JAHRMARKT muss man ja auch erst mal mitmachen. Aber das ist nur die Oberfläche. Den Humor dieser Kapelle, der nur wenig heilig ist, findet man irgendwo zwischen Müssen und Dürfen und Wollen. Test: man nehme eine heutzutage bestens bekannte Musikerpersönlichkeit, sagen wir Braxton, und lausche dem, was er bei JAHRMARKT spielen soll. Wenn das nicht komisch ist, weiss ich’s nicht. Unter den Identitätssuchern („eigener Sound, „Erkennbarkeit“, das eigene Ding machen“; heute würde man marktstrategisch vom „Alleinstellungsmerkmal“ sprechen - und auch da wäre lustig, einmal nachzuschauen, wer da von wem gelernt hat: das Kapital von der Kunst oder die Kunst vom Kapital) muss selbst der Universalist in stiller Demut das Unabdingbare einer kollektiven Arbeit, die tendenziell allen gerecht werden will, ertragen. Das macht die Sache spannend, strittig - und wer das nächtelang ausdiskutieren muss, sollte eine gute Leber mitbringen.
Hanebüchen von Schlippenbach
Der Jahrmarkt „GLOBE UNITY ORCHESTRA“ gerät zur hanebüchenen Orientierungsfahrt durch die Handschriften seiner Mitglieder. Handschriften? Inschriften! Die Zähmung des Schriftlichen durch seinen mündlichen, allsaitigen und antastenden Gebrauch - so wörtlich ist das auch gemeint. Für die Komponisten des Orchesters manchmal auch ernüchternd?! Hier und da noch ein bisschen die Daumenschrauben anziehen - und dann loslassen. Auf der Klaviatur der Triebsteuerung geht‘s hin und her zwischen Disziplin/Dizzyplin und Vögeln im Affekt.
The Forge,
auch von Schlippenbach
...wo gezeigt wird, dass auch wie ordentliche Musiker gezählt werden kann...und wo gezählt wird, kann man zeigen wie schön es ohne geht ... und dann wieder mit ...Subtilität und Power: die Balance immer wieder neu herstellen, weg mit den Nischen der Ausschließlichkeit. In der Produktion äußert und veräußert sich die Lust der Produzenten - nicht im Produkt (das unsereiner alleine noch hat - die CD ist ein Zombie-Ding). Und alle Lust geht auf Vielfalt. Das ist: GLOBE UNITY ORCHESTRA. Das ist das Spiel der Identitäten mit ihrer vorhersehbaren Begrenzung. Die Identität jedes Einzelnen als erkennbare Selbstmusikalisierung im Orchesterklang, auch und gerade auf die Gefahr hin, bis zur Unkenntlichkeit zu verschwinden. Das ist kein Männerulk, sondern wird irgendwann zum verdammten Problem, wenn der polychrome Schmelztiegel des Orchesters die Individualkonzepte wegzusieden droht. Oder wie‘s der Fachmann sagt: dialektische Aufhebung der individuellen Eigenheiten in die Heterogenität konfliktreicher Bruch-Stücke, im besten Sinne und gelungenen Fall. Klar: nur Collagen-JAHRMARKT geht nicht, nur THE FORGE auch nicht. Das GUO lebt vom Kontrast der Wünsche und Möglichkeiten. Alle späteren Großbesetzungen einzelner Mitglieder weisen eine deutlich höhere musikalische Homogenität aus. Das mag ästhetisch befriedigender sein, die Pointen aber fuhr schon das GLOBE UNITY ORCHESTRA ein. Dafür diese CD. Dafür diese Erinnerung.

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