For Example/Workshop Freie Musik - 1969-1978

tomas schmit (1978)

DIE ZEIT UND DIE LUFT

zeit findet von alleine statt,

musik nicht.

zeit findet nicht von alleine statt,

zeit findet zum beispiel durch musik statt.

jedenfalls: musik findet durch musiker statt,

statt nicht statt statt.

die luft ist auf unsere kosten arm dran. wir sehen durch sie durch, als habe sie sich in sich aufgelöst; fortwährend saugen wir die gute in uns rein und stoßen sie als schlechte wieder aus; sie muss die ganzen gerüche und gestänke mit sich rumschleppen.

und tausend dinge - allen voran die musikalischen geräte - bringen sie in wallung:

wir haben ein offenes ohr für ihre erschütterung,

doch ruhe findet sie erst am ende des lauschigen gangs, der von unserem ohr kopfeinwärts führt, wo sie ihre sorgen mit uns teilt.

jedenfalls: wir atmen durch die lunge und durch die ohren.

so erreichen unser ohr die geräusche der natur, der zivilisation und der kultur; die geräusche der kultur nennen wir (hie die sprache und da) die musik.

es gibt musik zum schunkeln, musik zum tanzen, musik zum marschieren, musik zum kotzen, musik zum mucksmäuschenstillsein, musik zum sich gruppenweise auf die zehenspitzen spreizen, musik zum andeuten wie es weitergeht wenn die kamera sich abwendet weil die darstellerin noch minderjährig ist und ihre mutter das nicht zulässt, musik zum verhindern sprachlicher kontakte damit man sich gleich an die körperlichen machen kann, musik für kulturellen gesichtsausdruck, musik für massenohnmacht, musik zum verkaufen von wasch- und genussmitteln, musik zum überkleistern der probleme des abhängig arbeitenden damit alles so weitergeht statt nicht oder anders, musik zum verklären der probleme des giftabhängigen, musik für popen, musik zum piepen, usw., usf.;

und es gibt musik zum zuhören (und zukucken).

da gibt es, ganz grob gesagt, volks-, e- und u-musik;

und den neuen jazz, der von allen dreien etwas hat und allerlei, was die drei nicht haben; volksmusik findet statt, wo volk musiziert: davon kann in unseren breiten keine längere rede sein;

und der u-freund, der freund weicher (oder auch harter) vordergründiger hintergründe, und der e-freund, der freund des elaborierten oder auch progressiven, herausfordernden - beide haben hierzulande und heutzutage gehörige schwierigkeiten, ihr bewusstsein entsprechend zu befriedigen: neigt doch das unterhaltsame dazu, trivial ja doof, und das ernste dazu, verkrampft ja verbiestert zu sein;

wenn gar die trivialen versuchen, ihren schmier mit ernst zu befrachten, herrscht gänsehaut; und wenn die seriösen versuchen, lustig zu werden, ist es immer irgendwie pennälerscherzig.

solcher überkreuzkrampf belastet unsere welt in mancher form.

: die neuen jazzer zählen zu den ganz wenigen leuten, die ihn zu überwinden verstehen:

ihre musik ist so ernst wie sie ernst ist und so lustig wie sie lustig ist!

und das will was heißen.

ein kleines beispiel dafür, wieviele seiten eine medaille hat:

zum abschluss eines stücks spielt der han auf der geige, die er zwischen den knien hat, einen langen, freundlichen ton;

über die ganze länge des geigenbogens;

aber irgendwann ist halt auch so ein geigenbogen zu ende:

seine spitze rutscht ab von den saiten

und ploppt - hörbar - auf den geigenkörper, - basta!

: das ist so gut (und schöner noch als das winzige glöcklein, das ein großes ives-stück beendet), so einleuchtend, so richtig,

dass und weil man dazu garnichts weiter sagen kann und braucht!

ja: dass, weil!

(wenn ich nun die medaille von kopf auf zahl drehe und zb an die bestrebungen der neueren e-musik denke, die spielbereiche der klassischen instrumente zu erweitern, also zb nicht nur auf den saiten der geige zu spielen sondern auch auf dem kasten etc - dann kommen mir diese bemühungen verglichen mit han's geigenbogenspitzenstück vor wie unmengen von schlabberwasser verglichen mit 1 ordentlichen bier! . . .).

virtuosität sagt man besonders denen nach, die historische musik exekutieren; sehe ich solche leute agieren, tun sie mir leid wie die tiger im zirkus (so prachtvoll die jeweiligen akteure und nummern auch sein mögen!) (und so erfreulich es sein kann, solche musik - ohne anblick - ausm radio oder vonner platte zu erleben!);

kürzlich sah ich im restaurant einer ddr-ostseefähre, wie der oberkellner mit einem (magisch komplizierten) handgriff die schmutzige tischdecke eines tischs durch eine frische ersetzte: das ist mir dann schon lieber;

oder natürlich dies: will man sich den pullover ausziehen, ist nichts so hinderlich wie kettenrauchen und nichts so hinderlich wie klavierspielen:

der misha schafft alles drei zusammen!

übrigens: jazzmusiker tun mir nicht leid.

die musikalischen äußerungen des nichtmusikers sind gemeinhin auf die badewanne beschränkt, das repertoire auf lieder wie "einst träumte meiner sel'gen base" oder allenfalls "for the benefit of mister kite";

und wenn es irgendetwas gibt, das sich als badezusatz nicht eignet, sind es die töne der brötzmannschen saxophone - das hätte man jedenfalls jahrelang gesagt;

inzwischen jedoch - na seit seiner soloplatte - kann es einem passieren, dass man unter der dusche steht und ein brötz-lied brummelt!

: das ist schon ein ziemlich ozeanisches spektrum.

: meine liebe fliege, jetzt komme ich dir mit zwei klappen!

diese musiker spielen musik.

während philharmoniker, rockgruppen oder trachtenkapellen nur vorgegebene muster exekutieren, machen sie muster.

sie mustern die zeit und die luft.

aus dem miteinander und dem nacheinander entstehen dinge, die es vorher nicht gegeben hat und es nachher nicht geben wird (mal abgesehen davon, daß man mikrofone unter der leute nasen halten und den kram auf rundliche platten oder längliche bänder drucken kann).

bei ,mustern' sollte keiner an tapeten denken, im gegenteil:

das muster, das sagen wir mal die blätter bilden, die im herbst unterm baum liegen, oder das, das die 23 akteure eines fußballspiels in einem bestimmten moment auf dem feld uns bieten, oder das der heringe in ihrem schwarm, oder das der gläser, kippen, deckel, etc. auf einem späten Kneipentisch, usw, usf, - das sind ja gerade keine muster im tapetensinn!;

weil sie nicht vorgemacht worden sind und nicht nachgemacht werden können;

weil sie nicht starr sind;

: nachtigall, ick hoffe du hörst mir trapsen!

diese musik spielt sich - wie alles komplette - zwischen zwei polen ab, der eine ist sagen wir mal die empfindlichkeit, der andere die handfestigkeit:

wenn kraniche, wildgänse etc verreisen, bilden sie diese keilform (weil sie dadurch kräfte sparen);

gut, inzwischen haben diese viecher das von selbst drauf; aber denken wir uns mal die zeit, in der sie es erst lernen mussten:

da müssen sie doch eine ungeheure gelassenheit, eine ungeheure unbeschwertheit, eine ungeheure freiheit gehabt haben, um die sensibilität aufzubringen, die nötig ist, solche feinen unterschiede zu bemerken und das bemerkte fruchtbringend zu verwerten!:

diese gelassenheit etc brauchen und haben auch unsere jazzer, wenn sie mit ihren instrumenten und mitspielern musik machen.

(anfangs dachte ich, es sei furchtbar ambitiös und daher eher unangenehm, wenn sie von "free music" und dergleichen reden; inzwischen glaube ich, dass sie garnicht so unrecht haben, wenn sie diesen weitestgehenden aller wertbegriffe benutzen).

die handfestigkeit (ihr weitläufiges gegenteil ist die pest der neuzeit so wie die unsensibilität ihre cholera ist..) ist nun aber auch eine sache der gelassenheit etc (offenbar waren nicht nord- und südpol, sondern jolanta und andrzej aus warszawa gemeint):

sie herrscht, wo weder gezittert noch gezetert, weder gefummelt noch gefackelt, weder dressiert noch arrangiert wird,

sondern da, wo gemacht wird.

wenn jemand genug masse hinter sich, in sich hat, kann er sagen: bitte schön, liebe leute, das ist das, was ich mache, was wir machen - hört es euch an!

und wenn die leute das akzeptieren (sie tun es, denn die masse ist vorhanden),

dann läuft der laden eben.

und nun 10 jahre workshop.

wie gesagt:

zeit findet von alleine statt.

musik findet von alleine statt.

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