Snapshot - Jazz Now/Jazz aus der DDR

Hans Rempel (1980)

Jazz in Europa

Es ist heute zu einer Selbstverständlichkeit in Europa geworden Jazz zu spielen. Doch beinhaltet diese Tatsache den Widerspruch, dass sich ihrer Herkunft nach europäische Musiker innerhalb eines Gebietes bewegen, dessen Wesen überwiegend afro-amerikanisch determiniert und motiviert ist, unabhängig davon, dass einige seiner Elemente, einige spezifische Gesichtspunkte dieses Musiktyps europäischen Traditionen entspringen. Sowohl Selbstverständlichkeit als auch Widersprüchlichkeit beim Spielen von Jazz in Europa erklären sich aus Zusammenhängen, die weit über den Bereich des Jazz hinausgehen, aus Entwicklungen, deren Dimensionen nicht allein Musikalisches, sondern vielmehr Kulturhistorisches, Soziales, Politisches umfassen. Aus dem vielschichtigen und in sich widersprüchlichen Komplex verschiedenartiger, vielfach auch gegenläufiger Prozesse seien einige Aspekte herausgestellt, die die Gesamtsituation der Musik im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts betreffen. Die Darstellung der einzelnen Gesichtspunkte muss innerhalb dieses Rahmens vereinfachend, sich auf Wesentliches beschränkend erfolgen. Ebenso muss auf die Differenzierung einer Reihe von Begriffen (wie etwa "Jazz", "Europa", "Außer-Europa" usw.), die für eine ausführlichere und gründlichere Bemühung um das Thema unbedingt vonnöten wäre, verzichtet werden. So stellen die genannten Begriffe heute kaum noch zulässige Verallgemeinerungen dar - zu unterschiedlich ist das soziale und stilistische Profil der einzelnen Jazz-StiIrichtungen, die sich zum TeiI sogar konträr gegenüberstehen - zu differenziert und auch heterogen ist die alIgemeine historische Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert auf europäischem Boden verlaufen, sich äußernd in der Existenz verschiedener ökonomischer und gesellschaftlicher Systeme, verschiedener sozialer Beziehungen, nationaler Traditionen usw. Doch leiten sich die heute zu beobachtenden Divergenzen, leiten sich die heute zu lösenden Widersprüche von langandauernden gemeinsamen historischen Entwicklungen her, die den Gebrauch dieser Begriffe auf allgemeinster Ebene rechtfertigen dürften.

Die eigene inner-europäische Entwicklung hat im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts vom einheitlichen, auf progressive bürgerliche Ideen begründeten musikalischen Konzept der Wiener Klassik in der Tendenz zu einem in sich gebrochenen Erscheinungsbild der Musik geführt, verbunden mit dem Abbau eines zentralen, allgemeingültigen bürgerlichen Ideals. Arbeitsteilung, Spezialisierung, ungleiche Besitz- und Gewinnverteilung innerhalb des kapitalistischen Systems bedingten allgemein-gesellschaftliche und damit auch künstlerisch-musikalische Divergenzen, die sich in der Existenz mehrerer, mindestens jedoch zweier in vieler Hinsicht sich ausschließender Sphären, in der Existenz der sogenannten "Kunst"-Musik einerseits und der populären Musik andererseits, äußerten. Beide Sphären sind an unterschiedliche Lebensbereiche, unterschiedliche Genres und Gattungen, unterschiedliche Bausteine und Ausdrucksmittel gebunden. Auch die Komponisten wendeten sich mehr und mehr ausschließlich der einen bzw. der anderen Sphäre zu. Daraus resultierte das Fehlen einer musikalischen Gesamtsicht, welches zu konzeptionellen Einseitigkeiten, zu handwerklichen Mängeln führen konnte, vor allem im Bereich der populären Musik, wo unter den Verlockungen und dem Druck des Marktes ein mehr und mehr verwässertes Produkt, Musikware minderer Qualität hergestellt wurde. Auch innerhalb der Sphäre der sogenannten "Kunst"-Musik haben sich Ende des neunzehnten und vor allem zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts divergierende Entwicklungen vollzogen. So ist ursprünglich positiv wertbare Traditionspflege in Traditionalismus, in institutionellen Konservativismus umgeschlagen und zu einer das Musikleben beherrschenden reaktionären, repressive Züge einschließenden, Kulturkonzeption geworden, von der aus progressives Neuerertum behindert, bekämpft und unterdrückt wurde - ein Erneuerungsstreben, das aus der Erkenntnis geboren ist, eben diese überlebten und hemmenden gesellschaftlichen und künstlerischen Erscheinungen überwinden zu müssen.

Die gesellschaftlich-sozialen, kulturhistorisch-stilistischen Divergenzen machen eine Verständigung zwischen den einzelnen Sphären und ihren, wenn auch nicht immer, so doch vielfach, ausschließlich auf den einen oder den anderen Bereich fixierten Konsumenten nur schwerlich oder überhaupt nicht möglich. Die Widersprüche, die sich aus diesen Divergenzen ergeben haben, bestimmen auch heute weitgehend noch Musikschaffen und Musikbetrieb.

Diese inner-europäische Entwicklung, die komplexe und hoch differenzierte Produkte hervorgebracht hat, jedoch auch mit Einseitigkeiten, Mängeln, Lücken und unüberbrückbar scheinenden Widersprüchen behaftet ist, wurde im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts von zahlreichen äußeren Störungen betroffen. Der vielschichtige, zum Teil diskontinuierlich sich vollziehende Störungsprozess hat ständig an Quantität und Intensität zugenommen, schließlich zu Ergebnissen neuer Qualität geführt. Er dauert bis heute an. Insgesamt gesehen besitzt er Ausmaße von kultur-historischen Dimensionen, seine Wirkung auf die einzelnen Bereiche der spezifisch europäischen Musik äußert sich unter den verschiedenartigsten Aspekten - historischen, ethnischen, geografischen, sozialen, politischen, stilistischen, materialen, aufführungs-praktischen usw., die von Fall zu Fall mehr oder weniger bestimmend sind bzw. in den Hintergrund treten oder fortfallen.

Die einzelnen Störfaktoren entstammen sämtlichst Bereichen außerhalb des herkömmlichen Musikbetriebes, vorrangig außer-europäischen Kulturen - aus Ost- und Südost-Asien, aus Indien, Afrika z.B. - ferner auch ost- und südost-europäischen Volks- sowie aus proletarischen Traditionen. In diesen Zusammenhang gehört auch der Jazz, der allerdings eine Sonderstellung einnimmt. Dieser Musiktyp ist zwar (wie bereits erwähnt) vorrangig afro-amerikanisch bestimmt, hat jedoch auch Züge europäischer Herkunft integriert herstellt somit bereits eine (außerhalb Europas von statten gegangene) Vermischung aus Elementen zweier Traditionen (afrikanischer und europäischer) dar. So treffen in der Musik des Jazz neben afrikanischen Elementen, die innerhalb seiner einzelnen Stilrichtungen mehr oder weniger stark hervortreten, auch ursprünglich europäische Bestandteile (jetzt allerdings in bereits gebrochener und transformierter Form) als Störfaktoren auf Europa.

Die Einwirkungen aus den verschiedenen außer-europäischen Gebieten haben sich in Europa zu unterschiedlichen Zeiten, unterschiedlich intensiv, unterschiedlich tiefgründig und nachhaltig bemerkbar gemacht. So gibt es Produkte, in denen sich außer-europäischer Einfluss lediglich sporadisch, in Spuren niedergeschlagen hat, - solche, in denen außer-europäische Stilelemente und Musizierpraktiken eine wesentlichere Rolle spielen, - bis hinzu solchen, innerhalb derer das europäische Moment bereits in den Hintergrund getreten, wenn nicht (fast) vollständig ersetzt ist. Beispiele für den ersteren Typ finden sich vorrangig im Bereich der (komponierten) Neuen Musik Europas, für die letzteren Typen in einigen Gattungen der populären Musik, wo vor allem nord-afro-amerikanische (in Soul- und Rock-Musik), ferner auch latein-afro-amerikanische Elemente bestimmend sind, wenngleich auch bei der Entstehung jener amerikanischen Musikarten europäische Elemente (ähnlich dem Jazz) eine (wenn auch mehr untergeordnete) Rolle gespielt haben. Der Einfluss außer-europäischer Musiken erfolgt bei weitem nicht immer total, vielfach sind es nur einzelne Komponenten (klanglich-instrumentale, metro-rhythmische, melodische), die in europäische Musik integriert werden. Auch unterläuft die Adaption bereits verwässerter Produkte, so geschehen während der zwanziger und der frühen dreißiger Jahre, als sich Komponisten aus Europa durch vom Klassischen Jazz abgeleitete Produkte minderer Qualität beeinflussen ließen. Doch muss die Adaption solcher Produkte nicht notwendig negativ zu Buche schlagen, da nur der neue Kontext, in den diese integriert werden, über Wert bzw. Un-Wert eines Musikstückes Auskunft geben kann.

In fast allen Fällen einer solchen Beeinflussung "von außen" ist jedoch eine generelle Einschränkung zu machen. Jene außer-europäischen Musiktypen sind Bestandteil oftmals sogar grundsätzlich andersartiger historischer Entwicklungen, inbegriffen fremde Lebensweisen und Gebräuche, fremde Artikulations- und Ausdrucksmittel. Ihre Einbeziehung in einen bestimmten europäischen Traditionsbereich (also in ein auf europäischem Boden entstandenes spezifisches, historisch, ethnisch, gesellschaftlich, ökonomisch, kulturell bestimmtes Umfeld) bedeutet stets Transformierung des aus einer fremden Kultur stammenden adaptierten Objekts, welches wesentlich bzw. in Elementen modifiziert, variiert, umgedeutet, verwandelt wird. So erklärt sich auch weitgehend die Beeinflussung zwischen nicht-adäquaten Genres und Gattungen, so z.B. der Einfluss außer-europäischer Kultmusik auf europäische populäre Musik, der außer-europäischen Kunstmusik auf europäische Tanzmusik oder der außer-europäischen Volksmusik auf europäische Kammermusik integriert in einen andersartigen historischen Rahmen, zumeist in Form von Elementen (also nicht total, als Ganzes) übernommen, verliert sich die den betreffenden außer-europäischen Genres immanente soziale Komponente, die Hinderungsgrund für ein Adaptieren sein könnte. Ähnliches gilt im Verhältnis zum Jazz, dessen europäische Repräsentanten eines seiner grundlegenden Wesensmerkmale im allgemeinen nicht nachzuvollziehen vermögen, nämlich die unauflösliche Bindung an eine spezifisch amerikanische ethnische Besonderheit, nämlich die Existenz einer im Kern in Gettos lebenden afro-amerikanischen Minderheit, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht nur ökonomischen, sondern auch rassistischen Repressalien ausgesetzt ist. Diese Tatsache macht sich besonders in einer grundsätzlichen Ferne des europäischen Musikers zum Blues bemerkbar, dessen Substanz und Wesen das Zentrum afro-amerikanischer Musik ausmachen dürfte.

So ergeben sich bei der versuchten Aneignung fremder Materialien durch Europäer (oft sogar gravierende) Divergenzen, herrührend aus dem mehr oder weniger mangelhaften und unvollkommenen Erfassen jener, der fremden Kulturäußerung eigenen spezifischen emotionalen Gehalte und ästhetischen Grundsätze. So ist es vielfach nur zu einer Abbildung der Oberfläche außer-europäischer Musik gekommen, reduziert auf einen illustrierenden Exotismus, während ein tieferes Eindringen in die Materie (zunächst) nicht stattfinden konnte. Trotzdem sind solche mehr modischen Erscheinungen insofern nicht als völlig unerheblich anzusehen, da sie vielfach eine (wohl notwendige) Vorstufe zu einem tieferen Eindringen in fremde Denkweisen, zu einem besseren Begreifen fremder Musizierarten und Ausdrucksbereiche darstellen, wenngleich auch bei weitestgehender Einsicht in Fakten und Zusammenhänge, bei größtmöglichem Einfühlen in die emotionale Sphäre einer fremden Kultur stets gewisse Wesensbezirke verschlossen bleiben dürften.

Die Kontakte mit außer-europäischen Kulturen ergaben sich bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein überwiegend indirekt und fast immer zwanghaft vor dem Hintergrund imperialistischer Kolonialpolitik, weniger durch einen freiwilligen und gleichberechtigten Austausch. Auch der Jazz entwickelte sich innerhalb einer solchen Situation, hervorgerufen durch die gewaltsame Verschleppung von Afrikanern als Sklaven nach Amerika, worauf sich eine gegenseitige Beeinflussung europäischer und afrikanischer Kulturen (auf amerikanischen Boden) ergab. Aus der Tatsache der Abhängigkeit und Unterdrückung der kolonialisierten Völker resultierten Unterschätzung und Verachtung der Unterdrückten, ihrer gesellschaftlichen Organisationsform, ihrer kulturellen und künstlerischen Äußerungen. Europäisch-bürgerliche Wert- und Kulturnormen wurden unkritisch und undifferenziert zur Beurteilung fremder Musik herangezogen und als alleingültiger Maßstab verabsolutiert. Dies führte zu einer Reihe von fatalen Missverständnissen und grundsätzlichen Fehlurteilen (nicht selten auch rassistisch eingefärbt) und nicht oder erst relativ spät und zögernd zu der Erkenntnis, dass die zur Beurteilung fremder Musikäußerungen verwendeten, auf euro-zentristischen Denkweisen basierenden Mittel untauglich sein könnten. Aus jenem erzwungenen Kontakt ergaben sich, zunächst mehr zufällig und sporadisch, verschiedenen Gegenströmungen, die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts auch soziale und teilweise politische Akzente annahmen, auf musikalischem Gebiet ausgewiesen durch das Eindringen außer-europäischer künstlicher Äußerungen, die, meist im Widerspruch zu europäischen Gepflogenheiten stehend, das herkömmliche Musikgefüge sozusagen von "hinten" und von "unten" attackierten.

Dieser Komplex aus verschiedenen Störfaktoren konnte dort wirksam in Erscheinung treten, wo sich innerhalb der spezifisch europäischen Entwicklung Einseitigkeiten, Mängel und Lücken ergeben hatten, die nun mit attraktiveren oder attraktiver scheinenden Denkweisen, attraktiverem Material fremder Herkunft aufgefüllt wurden. Somit ergab sich aus der Möglichkeit des Gestört-Werdens zugleich seine Not-Wendigkeit, die Notwendigkeit nämlich, jene Störfaktoren als positiven Antrieb in die (auf Teilgebieten stagnierende) eigene Entwicklung zu integrieren. Dabei wurden im Verlauf dieses Prozesses einige Bereiche der populären Musik weitgehend durch außer-europäische Musiktypen ersetzt, in einigen anderen wirkten die Störfaktoren in der Art von Katalysatoren beim Aufbrechen von Verkrustungen innerhalb der spezifisch europäischen Entwicklungen. Die Produkte der progressiven Neuen Musik Europas sind, wenn auch nicht unbeeinflusst, so doch in ihrem Wesen nicht erheblich gestört worden, da diese ihre Substanz, ihre Lebensfähigkeit und Existenzberechtigung aus der Bekämpfung des herkömmlichen bürgerlichen Kulturkonzepts, aus dem Überwinden-Wollen konservativer und reaktionärer Erscheinungen beziehen. Innerhalb jenes letzteren Bereichs haben Störfaktoren zumindest aber den Blick für eine kritisch fundierte Selbsteinschätzung geschärft, Fehlentwicklungen korrigieren helfen, vor allem aber auch das Positive und Progressive, das zu Belassende und Fortzuführende aus der eigenen europäischen Entwicklung stärker und plastischer hervortreten lassen. So haben die Prinzipien europäischen Komponierens diesen Störungsprozess nicht nur relativ unbeeinflusst überdauert, sondern außerhalb Europas auf eine vergleichbare Weise (nämlich ebenfalls in der Funktion des Störens) gewirkt (wie außer-europäische Musikkulturen innerhalb Europas), ausgewiesen durch die praktisch weltweite Verbreitung kompositioneller Prinzipien und Methoden, die ihren Ursprung grundsätzlich in Europa haben.

Bestimmte Bereiche der europäischen Musik haben sich bislang zu einer unerreichten Differenzierung entfaltet, jedoch nicht total, sondern einzelne Komponenten betreffend. In außereuropäischen Kulturen liegt der Schwerpunkt dagegen auf andersartigen, vielfach auch alternativen Komponenten, die ihrerseits wiederum ein hohes Maß an Differenzierung erfahren haben, somit potentiell als Störfaktoren geeignet sind, in die "Lücken" europäischer Entwicklungen einzudringen. Doch können daneben auch relativ einfache Gebilde außer-europäischer Herkunft durch den Anschein des Ungewöhnlichen, des Neuen Einfluss ausüben.

So ist z.B. der Bereich der Melodik zu einem bestimmten Zeitpunkt der europäischen Geschichte rationalisiert worden, durch die Reduzierung auf grundsätzlich zwei (wenn auch sehr modifizierbare) Skalen und ferner durch die Fixierung des Tonvorrats auf zwölf temperierte Halbtöne. Aufgrund dieser Rationalisierung, die gleichzeitig Begradigung, aber auch (bewusste) Einschränkung bedeutet, konnte sich das harmonisch-funktionale System voll entfalten. Doch ging hiermit gleichzeitig ein hohes Maß an melodischer Flexibilität verloren, einer Flexibilität, die- basierend auf einem weitaus größeren und differenzierteren Tonvorrat, auf einer Vielzahl an Skalen, auf dem Hervorbringen instabiler Intonierungen, von Zwischentönen, Glissandi usw. - innerhalb außer-europäischer Musiktypen eine hohe Entwicklung erfahren hat. Ähnliches gilt für das Timbre, den Bereich der Klangfarben, die in Europa zugunsten eines homogenen Gesamtklanges normiert wurden, in außer-europäischen Kulturen jedoch äußerst nuanciert und differenziert ausgeprägt sind, variabel gehandhabt werden. Nicht zuletzt hat auch der metrorhythmische Bezirk eine ungleich komplexere Entwicklung außerhalb Europas genommen, abgesehen von den hoch differenzierten Erscheinungen im rhythmischen Bereich, wie sie in Werken auftreten, die in seriellen oder in aleatorischer Technik gearbeitet sind.

So bedeutet jede Art von Profilierung ein Auswählen, Spezialisieren, Rationalisieren, gleichzeitig aber auch Einschränken und Abstoßen, womit sich jede Art von eigenständiger Musik ihr denkbares "Gegenteil" schafft, bestehend aus eben jenen Kompositionstechnik hat in Europa zu einem Zurückdrängen des spontanen Elementsgeführt. Die detaillierte Vorplanung von Musik (existierend in nuanciert ausgearbeiteten Partituren) hat einen Musikertyp hervorgebracht, dessen perfekte handwerkliche Fertigkeiten ganz im Dienst der kompositorischen Vollendung, der klanglichen Realisierung des Vorgeplanten stehen. Das diesem Musiker eigene schöpferische Potential wird in Erfüllung dieser Aufgabe in eine andere, "nachschöpferisch" genannte Qualität übergeführt. Das eigentlich Schöpferische (in diesem Zusammenhang also das Erfinden von Tönen, von Tonfolgen, von Musik) wird hierbei allerdings stark eingeschränkt bzw. kommt zum Erliegen. So stellen auch in dieser Hinsicht in außer-europäischen Gebieten gepflegte Praktiken eine attraktive Alternative dar, und zwar dort, wo die improvisatorische Entstehungsweise von Musik das Schöpfertum des Musikers freizulegen und zu motivieren vermag, unabhängig davon, dass Improvisation bei weitem nicht derart spontan verläuft wie gemeinhin angenommen, sondern an zahlreiche, dem Musiker oftmals nicht bewusste Traditionen, Gepflogenheiten, Normen und Regeln gebunden ist. Die totale Auswechslung der kompositorischen Entstehungsweise von Musik durch improvisatorische Methoden (zur "Befreiung" des Musiker) wäre allerdings genauso verfehlt wie andererseits das Ignorieren von improvisierter Musik, da dieses das Verlorengehen einer bestimmten, durch Komposition bedingten (und durch Improvisation nicht oder nur sporadisch und zufällig nachvollziehbaren) Spezifik und damit Verarmung bedeuten würde. So bietet die Koexistenz und gegenseitige Befruchtung beider Methoden eine Bereicherung des Gesamtspektrums, einen positiven, entwicklungsfördernden Widerspruch.

In diesem Zusammenhang spielt der Jazz eine nicht unbedeutende Rolle. Neben dem Einbringen neuen, nicht-europäisch gewachsenen Materials und der Freisetzung schöpferischer Kräfte durch die Improvisationspraxis bietet das im Jazz (überwiegend) bestimmende Moment der Kollektivität auch soziale Ansatzpunkte. So entfaltet sich im (ideal funktionierenden) Jazz-Ensemble ein hohes Maß an Persönlichem, an Individuellem, welches jedoch stets kollektiv geortet und kontrolliert, beeinflusst und korrigiert wird durch ein Kollektiv von Partnern, die sich entsprechend entfalten können. Wohl sind auch im Jazz hierarchische Prinzipien wirksam, jedoch werden Führungsanspruch und -notwendigkeit durch permanente Rotation der Führungsrolle innerhalb der Gruppe auf relativ gleichberechtigte und gleichmäßige Weise verteilt. In dieser Hinsicht ist das Jazzensemble gleichzeitig Modell und Abbild gesellschaftlicher Gruppierungen demokratischen Charakters. Auch bietet das Improvisationsprinzip des Jazz die Möglichkeit, die in Europa etablierte strikte Trennung (nicht nur zwischen Komponist und Musiker, sondern auch) zwischen Musik und Publikum, wenn auch nicht aufzuheben, so doch teilweise zu überbrücken, indem Publikumsverhalten und -reaktionen den Gang der Improvisation zu beeinflussen vermögen.

Auf das Einströmen außer-europäischer Musikkulturen und Denkformen, auf die Störung von "außerhalb" haben sich verschiedene Reaktionsweisen eingestellt. Da existiert zunächst die Fortsetzung der euro-zentristischen Haltung, die in totaler Negation, in repressivem Verhalten gegenüber fremden Einflüssen gipfelt. Modifiziert dagegen ist eine liberaler scheinende Einstellung, die jedoch in Wirklichkeit auf das gleiche, auf die Paralysierung des außer-europäischen Objekts hinausläuft, indem durch Kommerzialisierung Verwässerung und Qualitätsminderung in Erscheinung treten. Dort, wo der Störungsprozess als grundsätzlich richtig erfühlt, bzw. erkannt, als notwendig akzeptiert wird, stellt sich die Frage, in welcher Form, in welchem Maß Störfaktoren wirksam werden sollten. Die Möglichkeiten bewegen sich dabei zwischen zwei Extremen, zwischen dem, fremdes Material in Spuren aufzunehmen und dem der totalen Kopie, eingeschlossen sämtliche bereits vorhandenen bzw. denkbaren Zwischenstufen. Innerhalb dieses Spannungsfeldes bewegen sich auch die verschiedenen Versuche, in Europa mit Jazz umzugehen. So befinden sich Spuren von Jazzmusik in der Neuen Musik" obwohl diese (in mehreren Wellen verlaufene) Auseinandersetzung (bisher) Vereinzelung geblieben ist. Andererseits ist das totale Kopieren von Jazz (amerikanischen Typs) zu verzeichnen, was zugleich totales Negieren eigener Traditionen bedeutet. Diese Haltung, die zwar nach außen hin oftmals sehr produktiv erscheinen mag, jedoch ihrem Wesen nach außerordentlich unschöpferisch ist, bedingungslose Abhängigkeit und Vorbildsgläubigkeit bedeutet, besitzt jedoch eine gewisse (historische) Funktion, indem sie in der Regel Vorstufe für eine qualitativ höher stehende Ebene ist, auf welcher Eigenständigkeit angestrebt und teils auch erreicht wird. Hier haben sich in Europa selbständige und neben dem (ursprünglichen) außer-europäischen Vorbild auch gleichberechtigte Varianten von Jazz entwickelt, die bei zunehmender Individualität mehr und mehr dem Bereich des Jazz (im engeren Sinn) entwachsen (müssen). Von anderer Seite her gibt es, wenn auch bisher nur sporadisch in Erscheinung tretende kompositorische Bemühungen, die, auf Stilelementen und Methoden der Neuen Musik aufbauend, Prinzipien improvisierter (Free-)Jazz-Musik einen relativ breiten Raum gewähren. Ein Gebiet, auf welchem sich eigenständige europäische Jazz-Spielweisen und wesentlich jazz-beeinflusste Komposition berühren und teils sogar schon überschneiden, ist durchaus existent. Eine auf europäischem Boden wachsende Synthese mit breiter Basis, eine Synthese umfassenden Charakters, die Progressives aus eigener Tradition und Gegenwart und außer-europäische Einflüsse (Jazz) beinhaltet, scheint anvisiert, ihr Zustandekommen (wenn überhaupt grundsätzlich möglich) liegt dagegen in Zukünftigem.

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