1977 Free Concerts

Michael Thiem (1977)

Free Music vor den Amtsstuben – Amtsstubenmusik?

Zum 25ten Free Concert im Rathaus Charlottenburg

Zeit: Mittwochabend, etwa 20 bis 22 Uhr, durchschnittlich 5 Mal im Jahr. Ort: Otto-Suhr-Allee 100, Berlin 10, ein Gebäude, das sich normalerweise zu dieser Tageszeit ausgestorben und lautlos präsentiert. Tagsüber beherrschen ratternde Schreibmaschinen, knallende Stempel oder das Tuckern von Computern die Geräuschkulisse im Hause Otto-Suhr-Allee 100. Wer an besagten Mittwochabenden die Stufen zum Hochparterre nimmt und die Schwingtür hinter sich auspendeln lässt, den empfängt ein diffuser Klangbrei, vielfach gebrochen und reflektiert, damit verfälscht von den Mauern auf dem Weg von der Klangquelle zum Ohr des soeben Eingetretenen. Die Sportlich-Ambitionierten machen sich ans Treppensteigen, um hinter den Ursprung des gerade Vernommenen zu sehen, die Bequemeren nehmen den Fahrstuhl, drücken Knopf 3 und lassen sich in die Vorhalle der dritten Etage transportieren. Da steht dann z.B. Evan Parker auf einem Bein in Storchenhaltung, bläst auf seinem Sopransaxophon minutenlange Tonsequenzen und schickt diese ins Publikum und Richtung des hohen, jeden Ton widerspiegelnden Gewölbes. Evan Parker spielt im Rathaus Charlottenburg keine Kammermusik. Evan Parker hat auch keinen Notenständer vor sich stehen. Evan Parker macht frei improvisierte Musik.

Seit 1972 gingen 24 Konzerte im Rathaus Charlottenburg über die Bühne. Das Free Concert ist mittlerweile genauso ein Bestandteil des Szenariums improvisierter Musik in unserer Stadt wie die arrivierten Berliner Jazztage in der Philharmonie, untrennbar inzwischen damit verbunden das Total Music Meeting, die Alternative zur philharmonischen Kunst, die seit Jahren das Quartier Latin füllt. Zur Osterzeit wird in die Akademie der Künste zum Workshop Freie Musik geladen, im Sommer 6 bis 8 Mal in den Garten der Neuen Nationalgalerie, solange keine dunklen Wolken Niederschläge verkünden. Im Rathaus Charlottenburg wird es Anfang Oktober 1977 das 25. Free Concert geben, ein Jubiläum, das jetzt an zwei Abenden gefeiert werden soll, ein Ereignis, das sich nicht hinter dem Rücken der großen Namen zu verstecken braucht. Und wenn eine Konzertreihe sich nun zum 25. rüstet, so ist das immerhin eine Rückschau auf die geleistete Kontinuität wert, nein, besser eine Zwischenbilanz, denn die Kontinuität soll ja mit dem Jubiläum nicht zu Fall und Ende gebracht werden.

Obwohl die Free Concerts im Rathaus Charlottenburg vorhin in einem Atemzug mit den anderen Jazzveranstaltungen genannt wurden, sind sie doch in ihrem Charakter unvergleichlich, und das gleich in mehrer Hinsicht. Die Rathauskonzerte verteilen sich über das ganze Jahr; sie sind weder saisongebunden noch hängen sie mit einem festen periodischen wiederkehrendem Zeitpunkt zusammen. Dann stellen die Rathauskonzerte die einzige Veranstaltungsreihe dar, die an einem Ort stattfindet, der nicht von vornherein mit Museen oder Musik identifiziert wird. Ein Rathaus bzw. Behörden überhaupt betritt man doch nur, wenn es sein muss, wenn man ein Auto zulassen will oder den Personalausweis verlängern lassen muss oder in irgendwelchen unangenehmen finanziellen Angelegenheiten – meisten muss man berappen. Eigentlich ist man froh, wenn man wieder draußen ist, zumindest geht mir das so. Und die jüngere Bevölkerung lässt sich in Rathäusern sowieso noch seltener sehen.

Aus dem Vorsatz, jungen Leuten einen Anreiz zu geben, sich ein Rathaus auch einmal von innen anzuschauen, ergab sich die Idee des Free Concerts in der dritten Etage im Rathaus Charlottenburg, und zwar tragen die Konzerte den Anspruch „free“ in zweierlei Hinsicht: zum einen ist der Eintritt frei – die Veranstaltung zielt also nicht wie so viele andere auf den ohnehin meist schmalen Geldbeutel des Zuhörers – und zum anderen steht kompromisslos freie Musik auf dem Fahrplan. Die Verquickung dieser beiden Elemente wurde möglich durch die ersprießliche Zusammenarbeit zwischen dem Bezirksamt Charlottenburg, Abteilung Jugend und Sport, und der Free Music Production. Aus der einmaligen Idee erwuchs eine fest Einrichtung, die sich in Berlin schnell zu einer gleichberechtigten Selbstverständlichkeit gemausert hat. Der Name der Musikervereinigung FMP enthält die Musik, die dort zu Gehör kommt und ist schon beinahe mit einer Garantie zu vergleichen.

24. März 1972. Erstmalig wurde zu „Free Music in Free Concert“ in die Vorhalle im dritten Stockwerk des Rathauses Charlottenburg eingeladen, die Musik besorgte das „Quintett“ um den Pianisten Alexander von Schlippenbach. Das Konzert sollte sich als voller Erfolg entpuppen, so dass eine Wiederholung in Augenschein genommen wurde. Dass es bis dato deren 24 wurden, daran wagte damals keiner der Beteiligten zu denken, geschweige denn davon zu träumen. Wenn man heute Revue passieren lässt, so gastierten im Charlottenburger Rathaus nahezu alle wichtigen Musiker, die für die eigenständige Entwicklung der europäischen „free music“ verantwortlich zeichnen – die Namen Peter Brötzmann, Alex Schlippenbach, Han Bennink, Irène Schweizer stehen stellvertretend für viele, die alle wertvolle Impulse fürs Zusammenmusizieren gaben.

Was heißt denn nun „free music“? Free Music, das ist frei improvisierte Musik, deren Wurzeln zwar im „Free Jazz“ der 60er-Jahre zu suchen sind, der wie bis dahin alle Jazzentwicklung aus den Vereinigten Staaten zu uns herüberkam, der nun aber nicht mehr nachgespielt, kopiert wurde, sondern in einen eigenen, ureigenen europäischen Kontext gepflanzt wurde. Ein markantes Zeichen dafür ist die Einbeziehung aller möglichen Elemente aus der europäischen Musiktradition in den Improvisationsablauf – da kommen auf einmal Walzer, Märsche, Volksliedthemen zu Gehör, Musik, die man eher aus dem Variete oder vom Jahrmarkt gewohnt ist. Nur sagt da eben keiner, wir marschieren jetzt im ¾ Takt, sondern das ergibt sich im Augenblick des spontanen Zusammenspiels, das scheinbar vorgegebene Material wird neu er-improvisiert, neu erarbeitet.

Es sind schon eine ganze Menge Leute, die da innerhalb von 5 Jahren im Rathaus aufspielten, Musiker, die in aller Munde sind und sich vor Terminen kaum noch retten können wie Albert Mangelsdorff, der in den alljährlichen Umfragen nach dem weltbesten Jazzposaunisten inzwischen ein Abonnement für Platz 1 innehat, aber auch Musiker, die hier noch kein Mensch kennt wie die Finnen Sakari Kukko und Teppo Hauta-Aho, die zusammen mit dem Christmann / Schönenberg-Duo konzertierten. Im Charlottenburger Rathaus wurden Premieren gefeiert so stellte sich dort das Berliner Jazz Ensemble, ein Sextett aus lauter in Berlin ansässigen Nachwuchs-Musikern um Alexander von Schlippenbach, vor (Jugendförderung hier einmal sogar doppelseitig), andere Formationen gaben im Rathaus ihr Berlin-Debut, wie das Stuttgarter Bläsertrio „Blow“ – das sind der Trompeter Herbert Joos, der Posaunist Wolfgang Czelusta und der Klarinetten- und Saxophonspieler Bernd Konrad, das österreichisch / schweizerische Duo Radu Malfatti / Stefan Wittwer oder das neue Buschi Niebergall-Trio aus Frankfurt.

Musikalisch passierten da natürlich die verschiedensten Dringe. Einmal bringt das Quartett um den Amerikaner Frank Wright das ehrwürdige Gemäuer beinahe zum Erzittern mit seinem heißen, sich schier überschlagenen Jazz, an einem anderen Abend stellen Heiner Goebbels und Alfred Harth aus Frankfurt ein Programm zusammen, das auf deutschem Liedgut basiert. Einmal bewegt sich „Blow“ im Bereich des neutönerischen, ein andermal spaziert Han Bennink trommelschlagend die Freitreppen auf und nieder. Da spielt Hans Reichel Kirchturm auf seiner Eigenbaugitarre oder erzählt Gunter Hampel Alltagsgeschichten auf seinen diversen Instrumenten. Peter Brötzmann schreit sich fast die Lunge aus dem Hals, wo hingegen das Manfred-Schoof-Quintett Formen einer neuen Lyrik im Jazz ausspielt. Es geschieht viel bei den Free Concerts im Rathaus Charlottenburg, und es geschieht jedes Mal etwas anderes, die musikalische Reise eröffnet dem Hörer fortwährend neue Welten. Und beim Interesse des Jazzfreundes stoßen die Rathauskonzerte auf spürbare Resonanz, ein Stammpublikum von 300 bis 400 Leuten findet sich regelmäßig ein, oft kommen mehr – wer zu spät erscheint, muss sich mit einem Stehplatz begnügen. Die lockere Atmosphäre unter dem hohen Gewölbe, in dem sich das Auditorium im Halbrund zwanglos um die Musiker herum niederlässt, trägt auch wesentlich zum Gelingen der Abende im Rathaus bei.

Ja, und es gibt Rathaus-Musik auch auf Schallplatten, noch ein Anzeichen für die Wichtigkeit dieser Konzertreihe. So finden sich Aufnahmen von dort auf der „Remarks“ von Günter Christmann und Detlef Schönenberg wieder. Der zweite Teil des Konzerts vom 16. Februar 1977 ist komplett auf der kürzlich erschienenen „John Tchicai, der schon 1965 bei John Coltrane’s für den Free Jazz bahnbrechendem Werk „Ascension“ mit gewirkt hatte, auf seinen Saxophonen und einer orientalischen Holzflöte das Publikum mit Improvisationen über einfachen, liedhaften Kürzeln in seinen Bann schlug, traf er sich mit Albert Mangelsdorff, der im ersten Teil des Konzerts die Hohe Kunst des mehrstimmigen Posaunenspiels demonstrierte, zu einem spontanen Duo, das gleichermaßen faszinierte und dem Abend einen weiteren Höhepunkt bescherte, obwohl die beiden vorher noch nie zusammen im Duo gespielt hatten. In Kürze soll auch eine Platte mit Material aus dem Gastspiel des Christmann / Schönenberg / Kukko / Hauta-Aho-Quartetts in Finnland veröffentlich werden, und von „Blow“ wurde drei Tage nach der Rathausvorstellung, ein Album im „Flöz“ eingespielt.

Die verwendeten Mitschnitte für die Schallplatten stamme aber aus dem angrenzenden Saal, der manchmal zur Verfügung steht, und diese sind auch nur dort wegen der besseren Akustik möglich, Die entschieden bessere Saal-Akustik wird allerdings mit dem Verlust des so typischen Vorhallen-Fluidums erkauft. Und so sollen die kommenden Free Concerts im Rathaus Charlottenburg auch weiterhin überwiegend im freien Vorraum ausgetragen werden. Den nächsten 25 Konzerten kann man nur die besten Wünsche mit auf den Weg geben.

Aus: Faltblatt für die 25ten Free Concerts der Free Music Production (FMP), 1977

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