Wilhelm E. Liefland (1976)

Der Weg zu uns

Drei Platten der Free Music Production

FMP 0180 Outspan No. 1
Brötzmann - cl, as, ts, bs; Van Hove - p; Bennink - dr etc; Mangelsdorff - tb

FMP 0190 Goose Pannée
Schweizer - p; Carl - ts; Gorter - b; Hock - dr

FMP 0200 Outspan No. 2
Brötzmann - cl, as, ts; Van Hove - p; Bennink - dr etc

Die Berliner „Free Music Production” ist sozusagen der Industriezweig der gleichnamigen Musik-Co-Operative, die, im 8. Jahr ihrer Aktivitäten, das Paradox auf sich nahm, mitten im Kapitalismus mit den Mitteln des Kapitalismus gegen den Kapitalismus „anzuspielen“, anzutreten. Sie hat nicht darunter gelitten, dass sie die Widersprüche auf sich nahm, im Gegenteil, sie hat unter diesen Bedingungen einen kleinen Teil des Schutts der gesellschaftlichen Bedingungen weggeräumt, so dass Musik als kreativer Teil sonst arbeitender Menschen freigelegt wird; Spiegelbild und Ausdrucksmedium des Menschen, der noch aussteht, gleichwohl jetzt lebt; Mimesis einer Freiheit, die es noch nicht gab.

„Free Music“ ist insofern nicht (nur) musikalische Idee, kompositorisches, improvisatorisches, technologisch-instrumentales Programm: „Free Music“ ist zugleich soziales Pamphlet, ist die tonale Agitation für das Lernen des Zusammenlebens, der Interaktion in künstlerisch-produktiven, politischen, sinnlichen Bereichen, die durch Menschendressur, Konsumzwänge, Esoterismus und Ego-Trips weitgehend zugedeckt waren. (Vordergründig, aber richtig nennt ein früher Text der FMP das: „Abbau der elitären Konzerthaltung“.)

Dazu muss man wissen, dass die beteiligten Musiker die ganze Latte von deutschen und europäischen Jazz-Avantgardisten, ihre „Konzerte“ von vornherein als offene Veranstaltungen, als Workshops, als Gegenfestivals zu etablierten Konsumfestivals, als Arbeitssitzungen, als Diskussionsproben konzipiert und durchgeführt haben, zuletzt zum Beispiel an Ostern in der Akademie der Künste in Berlin, die jetzt sozusagen die Agorà der FMP ist, auf der über die Erlebbarkeit von „Free Music“ von Musikern und „Publikum“ entschieden wird.

Wenn nun die FMP Platten produziert, fällt unter dem Gesichtspunkt „LP“ (mehr als 20 bisher) die spontane Kommunikation vor Ort flach. Das heißt, aus Konzept und Spielpraxis wie oben beschrieben, ergibt sich: diese Platten sind „Dokumente“ einer Reihe von Augenblicken, Stunden, Tagen, in denen und an denen diese Musik unwiederholbar „stattfand“. Diese Platten sind keine gezielt abgerundeten, abgedichteten Studio-Produktionen bzw. –Kunstwerke. Als solche muss man sie beschreiben, als solche setzen sie für die ästhetische Rezeption „ihre“ Maßstäbe. (Jost Gebers, der verantwortliche Produzent im Rat der Freimusiker, hat da eine völlig andere Aufgabe als vergleichsweise Manfred Eicher, der Produzent der Jazz-Avantgarde-Firma ECM, die zwar auch modernen und Free-Jazz produziert, aber aus der Substanz dieser Musik heraus nicht ihre Rolle unter den Bedingungen kapitalistischer Marktgesetze reflektiert hat.)

Outspan No 1: Van Hove beginnt die A-Seite des „Elaborat“ „Serienze Serie“ allein am Piano mit einem Linken-Hand-Ostinato, verfremdet schon, denn es wird eine 12-Ton-Reihe vorbereitet, über der sich eine improvisierende rechte Hand entfaltet, schon immer ein scheinbares Paradox, denn Schönbergs 12-Ton-Mathematik, die u.a. vorschreibt, dass ein Ton erst dann wieder „erscheinen“ darf, wenn alle anderen 11 der traditionellen Skala gespielt sind, schien bisher spontanes Improvisieren ausgeschlossen zu haben. Doch diese Reihe ist nur thematischer, besser „materieller“ Anhaltspunkt für die Ausfächerung der jetzt folgenden Cluster-Differenzierung, in die sich hier und da wie ein listiger Historienclown eine rechte Oktavhand à la Blues ’n’ Boogie einschleicht. Der Pianist steigert diese Anfangsorgie bis zu einem Punkt an dem man jeden Augenblick die Zersplitterung des Manuals erwartet; Spiegelung eines ungeheuren musikalischen Kosmos, in dem Chaos und Struktur sich nicht ausschließen, sondern komplementäre Größen sind.

Denn kurz danach spielt Van Hove die Eingangsreihe, zart und kontrolliert, Brötzmann geht mit dem Tenorsax unisono mit – und wieder entfaltet sich – diesmal bei Brötzmann – ein fast serieller Wirbelsturm, dessen aggressive Dynamik alles wieder in Gang bringt: liebgewordene Hörgewohnheiten, gewohnte Vorstellungen, was nun Jazz ist und was atonale Neue Musik etwa, zerbrechend, zusammensammelnd, neu strukturierend, unruhig, aber doch genau wissend, dass Überblastechniken Geräusche produzieren, die immer auch noch Musik sind: ein äquivalentes Korrektiv bildet dann der kadenzartige Einstieg von Albert Mangelsdorffs Posaune, erst leicht wie ein Vogel bei Windstärke elf, dann einfühlsam konstruktiv, Öl auf die Wogen zunächst subjektivistischer Tonfreiheit, abschließend mit einem Glissando nach oben rutschend, in Obertonbereiche, die sich imaginativ fortsetzen lassen; ein Fragezeichen hinter dem Paradigma von „Free Music“. – Zwischendurch schon immer einmal ein musikalischer Kalauer, der Witz vorbereitet, sich im folgenden „Boogie für Fred“ als Zurücknahme der allzu forschen Avantgarde-Desorientierung entlarvt. Han Bennink spielt dazu eigentlich nur „Strukturen“, Schlag- und Rhythmus- und Geräusch-Quertreiberei, freche Seiten-„Hiebe“, die das Ganze fanatisch ernst und fanatisch heiter komplettieren. Auf Seite zwei im „Spaziergang“ eine ironische Rotzerei gegen den fröhlichen Walzer im Kaffeegarten, tja, womit schlagartig musikalisches Spießertum ad absurdum geführt wird.

Outspan No2: es ist hier ähnlich wie auf „Outspan No 1“; eine Art serieller Taschismus ist – hier ohne Mangelsdorff – noch mehr auf den Begriff gebracht. Wie ironisch-distanziert die Leute sich selbst sehen, zeigen die Titel dieser LP: „Ende mit Brötzophon“ – sprich, wer’s denn haben will „Ende mit Schrecken“; oder „Schöner geht’s nimmer“; etwa ein Heine-Effekt, indem in der Negation die Affirmation entsteht: es geht tatsächlich nicht mehr schöner in dieser „Free Music“.

Goose Pannée: nach dem ersten Set auf Seite eins, „Glücksgäu“, einer auf Tonika fixierten Klangorgie, ist dann Set vier wichtig: Irène Schweizer behandelt das Klavier wie noch kaum ein Jazzmusiker; im Verhältnis zu Fred Van Hove vergleichsweise phantasievoll: in „Scheidling Extra“ gruppiert sich das tonale Geschehen um die geschlagenen und gezupften Saiten-Aphorismen der Pianistin. Man stelle sich die kurzlebige „Tradition“ der musique concrète vor, vermittelt durch eine klassische Jazzinstrumentalgruppe, also Tenorsax, Klavier, Bass, Schlagzeug. Nicht vergessend Anton Weberns äußerste Klangreduktion, praktiziert das Quartett doch eben auch Jazzausbrüche. Hier ist am dichtesten und am einleuchtendsten verwirklicht, was für alle FMP-Avantgarde-Musiker gelten kann: musikalisch-kalkulatorisch sind sie durchweg europäisch, im Feeling und in der Ausdrucksmotivation sind sie Jazz-Musiker.

Die konventionelle Einteilung bei LP-Produktionen in „live“ und „Studio“ erübrigt sich bei FMP tendenziell. Was in actu kommunikativ gedacht ist, kann so ohne weiteres nicht ins runde Schwarz eingesargt werden. Es muss es gleichwohl doch, um als „Dokument“ die Stufe angeben zu können, wo wann welche Musik wie gespielt wird, auf dem Weg zu uns.

Zur FMP-Jahresproduktion 1974 gehört noch eine LP mit DDR-Musikern, die hier nicht berücksichtigt wurde: „The old song“, Gumpert, Sommer, Hering. FMP 0170.

aus: Frankfurter Rundschau, 24. Januar 1976

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