Wilhelm Liefland (1980)

Schafft zwei, drei, viele Freiheiten

Zur Geschichte, Struktur und Musik der Free Jazz-Musiker-Cooperative
«Free Music Production» (FMP) Berlin West

Nichts ist so wenig systematisierbar wie Free Jazz, Freie Musik, Free Music, Jazz überhaupt. Denn nimmt man das, was Improvisation meint, beim Wort, so dreht sich der musikalische Ausdruck immer um den Moment, den Zeitpunkt der Erfindung, den spontanen Einfall und um die Unvorhersagbarkeit des Zusammentreffens von Klängen und Klangstrukturen, sei's im Solo, in kleineren Gruppen, in Orchestern bzw. Bigbands.

Im alten Jazz, den ich hier bis 1965 ansetze, bis zum Zeitraum also, in dem man sich hauptsächlich in New York von sämtlichen gebräuchlichen Parametern wie Swing, Straight-Spiel, Two-Beat, Thema und Improvisation, feste Harmoniewechsel (Changes), Rollenverteilung von Solo und Begleitung löste, konnte man sich amerikanischerseits im Umkreis der Jazz-Zeitschrift down-beat ‑ und das wird in Europa im wesentlichen bis heute irrtümlich fortgesetzt ‑ auf Stilepochen verabreden: Ragtime ‑ New Orleans ‑ Chicago ‑ Kansas City ‑ Dixieland ‑ Swing ‑ Bebop ‑ Cool – West-Coast – East-Coast (New York) ‑ Hardbop ‑ Free Jazz ‑ New Thing ‑ New Jazz ‑ Jazzrock ‑ Fusion – Neobop-Freebop und dergleichen mehr. Man suchte da das Allgemeine über den individuellen Ausdruck der Musiker hinaus. Sobald man das als Kategorie einer Stilepoche absolut setzte, musste man den schwarzamerikanischen Aufbruch in den Free Jazz, die freie Musik publizistisch verfehlen. Denn Free Jazz ist kein weiterer Stil in der Abfolge der Jazz-Erfindungen, sondern der erste entscheidende qualitative Bruch in der bisher sogenannten schwarz-weißen Improvisier-Kunst. Leitfiguren dieser ästhetischen Revolution waren in Amerika: bedingt Lennie Tristano, p; John Coltrane, ts, ss; Charles Mingus, b; Ornette Coleman, ts, as; Cecil Taylor, p; Archie Shepp, ts; Albert Ayler, saxes; Don Cherry, tp; Sun Ra, keyboards; The Art Ensemble of Chicago mit Lester Bowie, Joseph Jarman, Roscoe Mitchell, Malachi Favors, Don Moye.

Auch müsste man historiographisch-methodisch auf einen Stil-Plan a posteriori im Extrem verzichten. Denn was den Musikern in ihrer musikalischen Syntax und Grammatik spontan recht war und ist, sollte den Verbalisierern, den Publizisten, den Jazzkritikern billig sein: Wenn die alte Sprache zur Abbildung der Neuen Musik nicht mehr taugt, weil die Musik in ihr nicht zur rationalen Erscheinung kommt, oder weil die Differenzen zwischen musikalischer und sprachlicher Behauptung so offensichtlich werden, dass weder feuilletonistische «Beschreibung» noch wissenschaftliche «Analyse» ein intersubjektives Verständigungsmittel sein können, muss man um so mehr auf der Spontaneität auch des Schreibers beharren. Denn nicht zuletzt produzierte und provozierte die Radikalisierung des subjektiven musikalischen Ausdrucks im Free Jazz auch die Radikalisierung des Rezipienten. Ihm müssen ‑ wenn es denn schon Sprache sein soll ‑ neue Mittel des ästhetischen Erlebnisses entwickelt werden. Für die Gültigkeit eines Satzes über Freie Musik heißt das: Er gilt nur so lange, er ist nur so lange wahr, wie ein Klang gilt, ein Klang wahr ist ‑ in einem bestimmten historischen oder Lebensmoment. Und so ist auch dieser Beitrag über die Berliner Free Music Production und über die mit der FMP verbundenen Musiker und ihrer Musik nur insoweit ein historischer Versuch, als diese Musik und die Arbeit dieser Cooperative im ästhetischen und politischen Kontext des letzten Jahrzehnts stattgefunden hat und stattfindet. Im Übrigen kann man gegenüber der hörbaren Musik nur sprachliche Äquivalente bilden, um Feeling und rationale Struktur gleichzeitig zu vermitteln. Und schließlich: Wer die Musik, die nur mittels Schallplatte ‑ und das ist nur ein Produktionszweig der FMP ‑ wiederholt hörbar gemacht werden kann, nicht hört, wird letzten Endes auch diesen Text nicht verifizieren können, obwohl einiges klarer wird über den Neuen Jazz. Die abgeschlossene, die hermetische Natur des Produkts ist in aller Kunst genauso wichtig und konstitutiv wie seine Öffnung und Sehnsucht nach Kommunikation. Aus diesem Widerspruch schießt Freiheit, auch die des anderen.

Intermission I
When the music is over, it's gone in the air. You can never capture it again.
Eric Dolphy, bcl, as, fl, auf seiner letzten Platte von 1964

Intermission II
Dem vielzitierten Popanz wissenschaftlicher Objektivität jagen die Autoren gleichwohl nicht nach, ohne sich dabei andererseits einen Freibrief für kriterienlose Subjektivität ausstellen zu wollen. Auch hier gilt: Musiktheoretische Urteile sind Hypothesen, deren Haltbarkeit sich am Erleben der Musik entscheidet.
Wolfgang Sandner, Rockmusik, Schott/Mainz 1977

Natürlich bahnen sich die Innovationen, die zum Free Jazz führen, schon früher an, beim Bebop der Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk, Bud Powell, Max Roach, die sich ihrerseits in den vierziger Jahren als Avantgarde verstanden. Oder dann bei Miles Davis und der Entwicklung der modalen Spielweise, die sich vom funktionsharmonischen System löst. Free Jazz ist weder in den USA noch in Europa vom Himmel der Ideen auf die Erde der Fakten gefallen. Und hier setzen auch die europäischen, die deutschen Free Jazzer ein. Ohne den amerikanischen Jazz ist die europäische Avantgarde ‑ und in sie ist die Geschichte der FMP als eines Hauptstrangs des europäischen Free Jazz eingebettet zusammen mit anderen Cooperativen in Holland, England, Italien ‑ nicht entstanden. Wenn von der Emanzipation des deutschen/europäischen Avantgarde-Jazz die Rede ist, betrifft das die späten sechziger Jahre (die politischen Schlüsseljahre 1967/68 spielen dabei eine mittelbare, keine ursächliche Rolle). Bis dahin durchlaufen die Free Jazz-Musiker im Umkreis der FMP die amerikanischen Vorgaben quasi im Zeitraffer. Mit der Entdeckung ihrer eigenen musikalischen (auch biographisch ‑ abendländlichen) Identität schwindet die Fixierung an die überwiegend schwarzamerikanischen Heroen. Ein Teil der Fans, hauptsächlich im Publikum der New Jazz-Festivals von Moers, jährlich an Pfingsten seit 1972, und ein Teil der deutschen/europäischen Jazzkritik hat das bis heute nicht nachvollzogen, sei es aus Aspektblindheit, sei es aus Business- «Zwängen». Mit der eruptiven oder schrittweisen Ausprägung der Individualität und Identität der ‑ im folgenden so genannten – FMP-Musiker (für die Darstellung des ebenfalls Ende der sechziger Jahre entstehenden Avantgarde-Zentrums der Münchener ECM ‑ Edition of Contemporary Music des Produzenten Manfred Eicher mit bis auf den Tag (Februar 1980:) 152 Plattenproduktionen + JAPO-Editionen ‑ ist hier nicht Platz und Thema; ich verweise auf Einzeldarstellungen, Plattenbesprechungen, Interviews in den Feuilletons hauptsächlich der Frankfurter Rundschau, der Zeit, HiFi-Stereophonie, jüngst Tip (Thomas Rothschild), der FAZ (Ulrich Olshausen, Wolfgang Sandner), Jazz-Podium usw.) bewegt sich das musikalische Geschehen in die Extreme; einerseits Atomisierung des musikalischen Ausdrucks, und nicht mehr die Unterordnung unter eine «Idee» Jazz oder Free Jazz oder «so spielen, wie X, Y, Z»; andererseits eine Kollektivierung auf neuer Stufe individueller Wahrheiten. Um es deutlich zu sagen: FMP-Jazz ist kein Stil im Sinne traditioneller Ästhetik.

Intermission III
An diesem kollektiven Prozess sind auf den seit 1967 bis dato 101 produzierten Schallplatten (meist von Live-Auftritten) folgende Musiker beteiligt (in alphabetischer Reihenfolge):

Aebi, Irène, cello
Antonow, Iri, ts
Arndt, Bernhard, p
Avenel, Jean-Jaques, b
Bailey, Derek, g
Bauer, Conrad, tb
Bauer, Johannes, tb
Becker, Heinz, tp
Becker, Manfred, p, acc
Bennink, Han, dr, misc
Bennink, Peter, as, bagpipes
Berger, Karl Hans, vibes
Bergeyck, Gilius van, as
Bernard, Claude, as
Bock, Jürgen, b
Boje, Andreas, tb
Bojé, Harald, synth
Braxton, Anthony, saxes
Breuker, Willem, saxes
Brötzmann, Peter, saxes, cl
Carl, Rüdiger, ts
Carter, Kent, b
Christmann, Günter, tb, b
Cook, Laurence, dr
Cuypers, Leo, p
Czelusta, Wolfgang, tb
Danstrup, Peter b
Dau, Harald, ss, ts
Driessen, Bob, as
Dudek, Gerd, ts, fl
Favre, Pierre, dr
Feza, Mongezi, tp
Fodé, Camara, perc voc
Frey, Peter K., b
Forsthoff, Helmut, ts
Fuchs, Wolfgang, ssi, bcl
Goebbels, Heiner, p, acc
Gorter, Arjen, b
Grabosch, Horst, tp
Graef, Friedemann, ss, ts
Gräwe, Georg, p
Graswurm, Joachim, tp
Gumpert, Ulrich, p
Guhl, Andi, b, bcl
Halfter, Lutz, dr
Hampton, Lamont, perc
Harth, Alfred, saxes, cl
Henrichs, Klaus, as, bs
Hering, Manfred, as
Hock, Heinrich, dr,
Honsinger, Tristan, cello
Hove, Fred Van, p
Howard, Noah, as
Huber, Klaus, dr
Hunnekink, Bernard, tb
Johansson, Sven-Åke, dr
Johnson, Oliver, dr
Joos, Herbert, tp, flh, euph
Jost, Ekkehard, as, bs
Kako, Takashi, p
Keyserling, Thomas, as, fl
Knispel, Achim, g
Koch, Klaus, b
Konrad, Bernd, ss, bs, cl, bcl
Koppelaar, Bert, tb
Kowald, Peter, b, tuba, alphorn
Kräling, Elmar, p

Krämer, Achim, dr
Kuchenbuch, Ludolf, ts, ss
Lacy, Steve, ss
Liebezeit, Jaki, dr
Locht, Peter van de, as
Lovens, Paul, dr, perc
Malfatti, Radu, tb
Manen, Willem van, tb
Mangelsdorff, Albert, tb
Mast, Michel, ss, ts
Mengelberg, Misha, p
Mergner, Bernhard, tp
Miller, Harry, b
Möslang, Norbert, saxes, cl
Moholo, Louis T., dr
Neumeier, Mani, dr
Niebergall, Buschi J., b, tb
Norden, Marten van, ts
Oehlmann, Johannes, dr
Oki, Itaru, tp
Parker, Evan, ss, ts
Petrowsky, Ernst-Ludwig, saxes, cl
Phillips, Barre, b
Pilz, Michel, bcl, bs
Plas, Nicole van den, p
Potts, Steve, as
Raaijmakers, Boy, tp
Rava, Enrico, tp
Regteren Altena, Marten van, b
Reichel, Hans, g
Rempel, Hans, p
Riermeier, Albrecht, perc
Rilling, Mikro, cello
Rømer, Ole, dr
Rutherford, Paul, tb
Sadlo, Wenzel, tb
Schläper, Michael, ss, ts
Schlippenbach, Alexander von, p
Schneider, Hans, b
Schönenberg, Detlef, dr, perc
Schönfeld, Friedhelm, as, ts, fl
Schoof, Manfred, tp, flh
Schweizer, Irène, p, dr
Segou, Camara, perc, voc
Smith, Michael, p
Snijders, Ronald, fl
Sommer, Günter «Baby», dr, perc
Spang-Hanssen, Simon, ts
Steinhaus, Nick, as
Steinmetz, Hugh, tp
Tchicai, John, saxes, fl
Theurer, Martin, p
Traoré, Kaloga, perc, voc
Trepte, Uli, b
Verdurmen, Rob, dr
Vesala, Edward, dr
Voerkel, Urs, p
Waisvisz, Michel, synth, electronics
Wegel, Thomas, b
Wheeler, Kenny, tp, flh
Wiedermann, Thomas, tb
Winkler, Wolfgang, dr
Wittwer, Stefan, g
Wolff, Jan, french horn
Youla, Fodé, perc, voc


Die im Prinzip anarchistische Entelechie, die herrschaftsfreie Produktions- und Bewegungsform der Freien Musik gibt von Anfang tendenziell das demokratische Modell für die Organisationsform des Zusammenschlusses der Musiker ab. Die realkapitalistischen Verhältnisse vor allem des Plattenmarktes diktieren derweil Arbeitsteilung. So übernimmt seit Beginn, seit der Gründung der Cooperative 1969, der Bassist Jost Gebers die Rollen des Geschäftsführers, Produzenten und Ton-Ingenieurs. Mitte der siebziger Jahre kommt Dieter Hahne als weiterer Geschäftsführer hinzu. Das genossenschaftliche und Non-Profit-Prinzip geht auch dann nicht verloren, als ebenfalls Mitte der siebziger Jahre ‑ bei, wie ursprünglich praktiziertem, fortgesetztem Schallplattenverkauf bei Konzerten, Festivals, Workshops und per Post ‑ der Vertrieb an den Schallplatten-Importdienst der Firma Bellaphon in Frankfurt/M., und dort an den Avantgarde-Experten Winfried Märkle, delegiert wird, mithin: die Platten sind fortan im Einzelhandel.

Für das ideelle Selbstverständnis aller Beteiligten, Musiker wie organisatorischen Praktiker, kann gelten, was Ekkehard Jost, as, bs, Musikprofessor an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, Autor des grundlegenden deutschen Standard-Werks «Free Jazz ‑ Stilistische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre ‑ Schott/Mainz 1975» und als Musiker Mitglied der Gruppe GRUMPFF (S. a. LP «Wetterau», FMP/SAJ-16, aufgen. 1978) in einem Sonderdruck der Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung Graz für den Free Jazz generell, ob schwarz oder weiß, amerikanisch oder europäisch, in einigen Punkten skizziert:

Free Jazz bedeutet
1. das Infragestellen jeder Art von etablierten Normen bzw. Regeln, die die Organisation des musikalischen Materials betrafen (was allerdings nicht mit einer totalen Negation von Regeln identisch ist;
2. die wachsende Bedeutung des spontanen Aufeinanderreagierens in der
Gruppe und damit
3. die ‑ zumindest partielle ‑ Aufhebung der Rollenverteilung in Solisten und Begleitende sowie eine zunehmende Tendenz zur Kollektiv-Improvisation anstelle des Solos;
4. die Emanzipation der Klangfarbe als eigenständiges Mittel improvisatorischer Gestaltung und damit die Möglichkeit, amelodisch zu spielen;
5. die Betonung von Energie und Intensität als kommunikative Elemente und Auslöser kollektiver Ekstase;
6. die Hinwendung zu den Musikkulturen der Dritten Welt und damit die Einschmelzung zahlreicher asiatischer und afrikanischer Elemente in den Jazz-Kontext ‑ und schließlich
7. ein wachsendes Bewusstsein der Musiker für gesellschaftliche, d. h. politische und ökonomische Probleme.

Intermission IV
Ich denke, als ein Ausdruck des menschlichen Herzens oder des menschlichen Wesens selber sagt die Musik, was vor sich geht. Ich denke, sie formuliert alles ‑ die Erfahrung der ganzen Menschheit genau in dem Augenblick in dem sie entsteht.
John Coltrane,
in: Free Jazz - Black Power, von Philippe Carles und Jean Louis Comolli.
Fischer Taschenbuch 1464, Frankfurt/M. 1974

Wenn drei Kinder und eine Kirche in die Luft gesprengt werden, bleibt etwas in deiner kulturellen Erfahrung hängen. Eben das heißt, nach meiner Meinung, Avantgarde. Archie Shepp, a.a.O.

Damen, und Herren, jedes Mal eine Uraufführung.
Peter Brötzmann

Das Wichtige an der FMP ist die zunehmende Wirkung, die sich einstellt wenn über 10 Jahre hinweg in jeder Saison neue (progressive, manchmal recht radikale) improvisierte Musik dargeboten wird. Das hat nicht nur in Berlin ein sehr kennerisches Publikum geschaffen, sondern es sind wichtige Einflüsse auf die gesamte Szene in Deutschland ausgegangen und darüber hinaus auf andere Länder, wo Interesse an dieser Art Musik besteht (Frankreich, Italien, Holland, USA usw.).
Steve Lacy, in: For Example. Workshop Freie Musik 1969 ‑1978.
Free Music Production/Akademie der Künste,
Photographs-Documents-Statements-Analyses.
Cassette mit 3 LPs und Textbuch-LP-Cover-Format, 134 S., Berlin 1978.

(anfangs dachte ich, es sei furchtbar ambitiös und daher eher unangenehm wenn sie (unsere jazzer] von «free music» und dergleichen reden, inzwischen glaube ich, dass sie gar nicht so unrecht haben, wenn sie diesen weitestgehenden aller wertbegriffe benutzen.)
tomas schmit, Die Zeit und die Luft, a. a. O.

Die Achse Rheinland - Ruhrpott - Berlin ist für den deutschen Free Jazz und für die Entwicklung des (jetzt Berliner) Musikerverbandes FMP bestimmend. Eine Achse Berlin-Frankfurt konstituiert sich durch die beiden Musiker Albert Mangelsdorff, tb, und Buschi Niebergall, b, die im übrigen mehr oder weniger kontrovers in den Kontext der Frankfurter Musiker um den «jazzkeller» herum eingebunden sind (Emil Mangelsdorff, Heinz Sauer, Ralf R. Hübner, Günter Kronberg (†), Günter Lenz, Bob Degen, Peter Giger, Hans Koller (von Zeit zu Zeit), Dieter Scherf, Michael Sell, Thomas Cremer, Rainer Brüninghaus, Uwe Schmitt, Christof Lauer u. a.a.O.

Um Peter Brötzmann bildet sich 1968 in einer Kölner Tiefgarage ein Alternativ-Programm zu «Jazz am Rhein». Hier entwickelt sich im Keim die Idee einer absoluten, industrieunabhängigen Autarkie der Neuen Musik. Um diese Zeit entstehen die ersten selbstproduzierten Schallplatten von Peter Brötzmann: For Adolphe Sax, aufg. 1967, heute FMP 0080. Die andere: Machine Gun, aufg. im Pariser Mai 1968 in der «Lila Eule» in Bremen («Kritiker zahlen Eintritt!»), heute FMP 0090.

Intermission V
Die Eigenproduktion von Jazz-Schallplatten hat im größeren Zusammenhang der ästhetischen und politischen Selbstbestimmung zunächst der schwarzen US-Jazzer im Kontext der schwarzen Freiheitsbewegungen in den USA ihre Vorgeschichte in den Copyright- bzw. Urheberrechts-Kämpfen, die sich erst innerhalb der amerikanischen Urheberrechtsgesellschaft A.S.C.A.P., dann in Fraktionskämpfen zwischen der A.S.C.A.P. und der durch zunehmende Radioproduktionen in den vierziger Jahren (zunächst hauptsächlich hinsichtlich der Blues- und Race-Music) entstehenden B.M.I. abgespielt haben. Die Platten-Industrie verstand sich in den meisten Fällen in puncto kompromissloser Jazz als Zuschuss-Mäzen mit im Übrigen kapital akkumulierenden Produktionszweigen von «U-Musik», denen dann häufig auch der Jazz, kommerzialisiert, zum Opfer fiel. Charles Mingus war einer der heftigsten Authentizitäts-Kämpfer. Carla Bley (und Mike Mantler) gingen nach einer Zeit mit der New Yorker Jazz Composer's Orchestra Association (JCOA) zu Eigenproduktionen über: WATT, in Deutschland bei ECM. Die New Yorker Loft-Szene, Wohn-Workshops des Free und Post Free Jazz, entwickelte ähnliches.

Während der Berliner Jazztage 1968 bildet sich ein Alternativ-Festival der Free-Musiker heraus, das fortan unter dem Namen «Total Music Meeting» bis heute seine Tradition entwickelt. Die ersten Ideen zu a) einem fortlaufenden Workshop, zu b) Schallplattenproduktionen in eigener Regie werden konzipiert. Ostern 1969 findet der erste «Workshop Freie Musik» auf mehreren Bühnen und Podesten in der Berliner Akademie der Künste statt. Subventionsgelder stellt die Akademie aus ihrem vom Berliner Senat gespeisten Etat zur Verfügung. Damit reduziert sich das Eintrittsgeld auf ein Minimum. Den Initiatoren des Workshops wird vollkommene Freiheit und Autonomie in inhaltlicher und formaler Gestaltung, was sich komplementär bedingt, eingeräumt. Pianist Alexander von Schlippenbach und Trompeter Manfred Schoof finden für den künftigen Zusammenschluss der Free-Jazzer den Namen «Free Music Production».[Auch wenn es gut formuliert ist: Hier irrt Liefland – Namensfindung und Firmengründung erfolgten durch Gebers]. Das impliziert natürlich auch eine polemische Speerspitze gegen die kommerzielle Schallplattenindustrie und noch Jahre später nennt Werner Panke, Jazzkritiker aus Westfalen, sein FMP-Portrait in der neuen musikzeitung: «Mit eigenen Platten gegen mächtige Krämer. » Nach anfänglichen musikalischen und organisatorischen Schwierigkeiten (wie bei jedem Ausbau einer Revolution) gelingt erst 1972 die endgültige Koalition mit den Wuppertaler Musikern und Gruppen um Peter Kowald, Peter Brötzmann, Rüdiger Carl, Hans Reichel, Detlef Schönenberg u. a. Auch in Wuppertal bildet sich ein Free Jazz Workshop heraus. (Beispiel: Globe Unity Orchestra, Jahrmarkt/Local Fair, Side B: recorded live/openair 5. 6. 1976 in Wuppertal during the 4. Wuppertaler Free Jazz Workshop, po torch records PTR/JWD 2, prod. by Peter Kowald/Paul Lovens, Aachen 1977/auch über FMP. Beteiligt sind dabei auch drei andere Musik-Ensembles: die «Wuppermusikanten», die griechische Folkloregruppe «Mousikon Synkrotima Spirou Papandreou» und die «Wupperspatzen»).

Intermission VI
Deutsche, holländische, englische und französische und italienische, auch schwedische, norwegische und finnische Avantgardemusiker waren 1969 längst auf dem Wege zu sich selbst und hatten bereits eine Free Music entwickelt, die sich in gleicher Weise auf die Coltrane, Coleman, Mingus, Shepp, Sun Ra, Taylor, Ayler usw. bezog, wie sie sich auf das abendlandtiefe Reservoir von Klängen, Motiven, Methoden, Ideenstrukturen und Einstellungen zum europäischen Erbe bezog, das seinerseits schon durch die 12-Ton-Methode (Schönberg, Berg, Webern), durch Konkretismus, Futurismus, Satie, Dada und Eisler, den Schönbergschüler, produktiv zerlegt und nicht selten witzig-aggressiv zerstört wurde. Hinzu kamen Anverwandlungen von «Volksmusik», mittelalterliche Folklore, proletarische Musikkultur, kommunistische, sozialistische Agitationsmuster der Weimarer Republik, Straßenmusik, Spielmannszüge, auch J. S. Bach und die Klassik spielen eine gewisse Rolle, Elektronik auch (der frühe Stockhausen und das Kölner Studio). Kurz: die Avantgarde-Jazzer können alles, was die sog. «E-Musiker» auch machen, bloß anders. Dieses «anders», auch «Jazz» genannt, ist eine neue Qualität des menschlichen Ausdrucks, der man eine idealistische Systematik nicht wird widmen können.

Noch ohne Vertriebsorganisation (die Platten werden vorläufig per Post, bei «Konzerten», Workshops und Festivals verkauft), gibt die FMP 1969 ihre erste Platte heraus: European Echoes ‑ Manfred Schoof, FMP 0010, aufg. Juni 1969 in Bremen. Der Name enthält Absicht, Selbstverständnis und Programm: Es ist die «offizielle» Antwort der europäischen Free Jazz-Avantgarde an Amerika.

Partisanenperspektive
Die personelle Kontinuität der letzten 10 Jahre besteht vor allem in Jost Gebers, Dieter Hahne, Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann. Der pluralistische Zentrifugal-Trieb einer solchen freiheitlich-demokratischen Musiker-Initiative (hier ‑ im Unterschied zu republikanischen Reden ‑ beim Wort genommen) zeitigt Bewegungen und Veränderungen.
Es entwickelt sich europaweit die Zusammenarbeit (in Workshops, Platten-Vertrieb, Austausch und Festivals) mit anderen Musiker-Cooperativen:
Instant Composer Pool (ICP) Holland
BVhaast (Willem Breuker Kollektief) Holland
Emanem England
Incus (Paul Rutherford, Derek Bailey, Evan Parker u. a.) England;
jüngste Veröffentlichung: Time, Derek Bailey, g, Tony Coe, cl, Incus 34‑A.
Adresse: 14. Down Road, London E 5 ‑ auch über FMP.
Daraus hervorgegangen:
die Company-Gruppe, internationale ad-hoc-Produktionen,
(Derek Bailey/Evan Parker) England
Po Torch Records (Paul Lovens/Paul Lytton, beide dr, perc)
Couvenstr. 13, 5100 Aachen 1 ‑ auch: über FMP.
Jüngere Veröffentlichung: PTR/ JWD 4, Paul Lytton Solo
die DDR-Avantgarde um Petrowsky, Gumpert, Sommer, Bauer u. a. kommt ins Programm, nach jahrelangen Bemühungen Jost Gebers mit den DDR-Behörden auch in den Workshop Freie Musik, Plattenproduktionen teilweise live vom «Workshop», teilweise in Koproduktionen mit dem Rundfunk der DDR und dem VEB Deutsche Schallplatten DDR
das Duo Detlef Schönenberg, dr, perc, und Günter Christmann tb, b,
auch mit Eigenproduktionen, erweitert seine Aktivität in verschiedene Richtungen: Ballett-Free-Music-Experimente mit Pina Bausch vom Wuppertaler Tanztheater; Zusammenarbeit mit dem Elektroniker / Synthesizer-Spieler Harald Bojé.
Zentrum dafür wird Langenhagen/Hannover mit periodischen Veranstaltungen
Black Saints Mailand / Italien ‑ über FMP
ECM-Produktionen mit FMP-Musikern (Manfred Schoof)
Alex Schlippenbach löst sich aus dem Inner Circle und macht zwei Einspielungen mit Produzent Manfred Eicher (ECM):
Globe Unity, Improvisations, JAPO 60021, 1978
Globe Unity, Compositions, JAPO 60027, 1979
Buschi Niebergall-Michel Pilz-Uwe Schmitt veröffentlichen eine Trio Platte auf dem Frankfurter Label Trion (3901): Celeste
der Rundfunk tritt als Käufer auf und übernimmt teilweise Produktionen live ‑ von den Workshops Freie Musik
Free Concerts – FMP-Rathaus-Konzerte in Berlin
FMP-Konzerte im «Quartier Latin» und im «Flöz» in Berlin
Zusammenarbeit mit dem New Jazz Festival Moers
(Burkhard Hennen, Ring Records).

Schafft zwei drei viele Freiheiten

Coda ‑ after hour 
schattenlehre
                                                                       off ‑ five 
                                                                       dark – six
                                         Anthony Braxton:
                                                                      hellfünf 
                                                                      dunkelsechs
und 
da klingt mein dur
moll
herz 
noch 
an tischen
     türen

     seltener

an bäumen 
     frauen 
     straßenrändern 
     himmelsrippen 
     sternhäuten 
und 
an morgen

     rot 
     werdend 
     wie gott

beim ersten blauen flügelschlag

wenn
der augendiskant 
sich öffnet 
zum schrei

und 
      an heim 
an die wand 
gestellt

fließt sein blut 
unter 
die sonne

und 
schlägt
           einen takt
an
    sich

noch kein mensch

hat 
seinen schatten 
an morgen

auf den mondmatten 
an 
mich 
ab 
ge

TRETEN

aus: Rock Session 4, Magazin der populären Musik,
Herausgeber: Klaus Humann & Carl-Ludwig Reichert
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei Hamburg, September 1980

©
Die Copyrights liegen jeweils bei den genannten Quellen und/oder bei den Autoren.