Wolfgang Burde (1989)

Klang ist Feuer, Wasser, Erde und Luft
Der Jazzpianist Cecil Taylor, das "Total Music Meeting"
und zwanzig Jahre „Free Music Production“

Als sich im Jahre 1966 dreizehn europäische Jazz-Musiker unter Alexander von Schlippenbachs Leitung zum „Globe Unity Orchestra“ zusammenschlossen und mit „Globe Unity“ und „Sun“ auf den Berliner Jazztagen debütierten, erregte das Orchester zunächst ungläubiges Staunen. Denn der Jazz und seine bereits siebzigjährige Tradition war im Bewusstsein der Zeit immer noch ein ausschließlich amerikanisches Terrain. Alexander von Schlippenbachs Kommentar zu seinen Stücken begann, mit der Explikation des Begriffs „Kugelgestalt der Zeit“, und das war ein grundlegender ästhetischer Terminus seines Kompositionslehrers Bernd Alois Zimmermann. „Das kosmische Auge im Mittelpunkt und an der Peripherie der Kugel sieht die Strukturen gleichzeitig von allen Seiten.“ Rhythmus sei der Atem der Welt. Klang sei Feuer, Wasser Erde und Luft. Hinter seinem farbigen Schirm phosphoresziere eine Gestalt in reiner, unverletzlicher Schönheit. Vor allem Schlippenbach, aber auch viele der Musiker um ihn, wie Manfred Schoof, Peter Brötzmann, Willem Breuker, Gunter Hampel oder Peter Kowald, hatten eine innige Beziehung zur zeitgenössischen Neuen Musik. Und die Emanzipation der europäischen Jazz-Szene von der amerikanischen gelang in den sechziger Jahren wohl auch darum, weil diese junge Musikergeneration sich mit zeitgenössischen Ideen aufgeladen hatte.

Bald traf man sich, um in Donaueschingen Pendereckis Jazzkomposition „Actions“ aufzuführen, trat in Konzerten mit neuer Musik auf und nistete sich allmählich in der West-Berliner „Akademie der Künste“ ein, die für den europäischen Free Jazz zu einer Art Kultstätte wurde und seit dem Frühjahr des Jahres 1969 mehrtägige „Workshops Freie Musik“ veranstaltete . Die offiziösen Berliner Jazztage waren bereits im Jahre 1968 zum ersten Mal mit einem Gegenfestival, dem „Total Music Meeting“, konfrontiert worden, das seit 1970 im „Quartier Latin“ heimisch wurde.

Aus dem Bestreben der Musiker aber, ihre Konzerte selbst zu organisieren, ihre Schallplatten selbst zu produzieren, „karawanenartige Auftritte von hochkarätigen Musikern“ auch zukünftig zu vermeiden, die Eigenständigkeit ihrer ästhetischen und menschlichen Haltung zu bewahren, entstand im Jahre 1969 ein sensationeller Zusammenschluss von Musikern des Free Jazz um Peter Brötzmann und den einstigen Bassisten der „Donata Höffer Group“, Jost Gebers: die „Free Music Production“, FMP.

Was in diesen zwanzig Jahren seither geschah, an Siegen und Niederlagen, an musikalischen Triumphen und langen Durststrecken kann unmöglich resümiert werden. Die Resultate dieser mühseligen Arbeit an der Peripherie des Musikbetriebs aber, das schöpferische Glück und die Kontinuität der europäischen Free-Jazz-Musiker kann nunmehr gewürdigt werden. Die FMP hat wie keine andere Schallplattenfirma sonst die Kreativität europäischer Jazz-Musiker aus Holland und der Schweiz, britischer, französischer bundesrepublikanischer Jazzmusiker und solcher der DDR auf über zweihundert Schallplatten dokumentiert. Und Jost Gebers, Dagmar Gebers und Dieter Hahne haben in einer bewundernswürdigen Treue zur Sache Musiker auch der jüngeren Generation in einem Kontinuum von Konzerten und Workshops zusammengeführt, das einzigartig genannt zu werden verdient. Gebers, befragt, ob er sich vor zwanzig Jahren darüber im Klaren gewesen sei, worauf er sich einließe, antwortete mit der ihm eigenen Lapidarität: „Wenn mir das klar gewesen wäre, würde es FMP nicht geben.“ Was an Rangeleien um Geld, an Kämpfen um Projekte, aufnahmetechnische Probleme und Clinch mit Finanzämtern hinter diesen zweihundert Schallplattenproduktionen und der großen Zahl von Konzerten stecke, sei kaum vorstellbar.

Nun, die FMP feierte ihr zwanzigjähriges Bestehen auf dem diesjährigen „Total Music Meeting“ im „Quartier Latin“ ironischerweise mit einer Serie von drei Konzerten, „Third Step,“ die sich um den amerikanischen Pianisten Cecil Taylor konzentrierten: Taylor als Solist, im „Feel Trio“ (William Parker, Bass; Tony Oxley, Schlagzeug) und im „Corona“-Quintett, in dem der junge Geiger Harald Kimmig und der Violoncellist Muneer Abdul Fataah mitwirkten. Und die FMP präsientierte zu ihrem Geburtstag eine inhaltsschwere Kassette mit zwölf CDs und einem gewichtigen Bild- und Kommentar-Band, die Cecil Taylors Berliner Jazzworkshop des Jahres 1988 dokumentierte.

Der einstige Aufbruch aus Amerika mündet im Augenblick also ein in einen Versöhnungsüberschwang von großer Fruchtbarkeit. Während sich Taylor im Verlauf vieler Jahre ein wenig europäisierte, beginnen junge europäische Musiker nun in direktem Kontakt mit dem großen amerikanischen Musiker zu lernen.

Die Konzerte im „Quartier Latin“ lebten in der Tat von einer Euphorie des Aufbruchs, die an die ersten Jahre der FMP erinnerten, an jene raumgreifenden, Zeit verschlingenden Jazz-Nächte, in denen Musiker und Hörer bis zur Erschöpfung sich aneinander entzündeten. Kein Zweifel, Taylor war auch in diesem Jahr der Motor der großen Jazzexkursionen. Seine schöpferische Unruhe, meist von wenigen Stepps der linken Hand, von trockenen gerissenen Forteakzenten der Bassregion ausgehend, bildete in kürzester Zeit einen Klangteppich von Beziehungen aus, deren Reichtum immer wieder atemlos machte, Staunen erregte. Taylor tendiert zum Jazzmonolog, aber er hat in dem Drummer Tony Oxley einen Gesprächspartner, der es nicht nur an sich verausgabender Vitalität in diesen Stunden währenden Prozessen mit ihm aufnehmen, sondern auch seine Handschrift, seine Originalität durchsetzen konnte, Taylor gelegentlich zum Schmunzeln, gar zum Lächeln brachte. Am letzten Abend hatte der hochbegabte Jazzgeiger Harald Kimmig, in der Tat mit einem zartbesaiteten Instrument umgehend, spürbar Probleme gegen den dominierenden Taylor seiner eigenen, sehr sensiblen, anmutig-gelenkigen Spielweise Räume zu öffnen.

Die Ästhetik dieser Formationen ist zwar gruppenorientiert, es geht um Soundproduktion, um die Artikulation der internen Dynamik von Klangbändern und herausgeschleuderten Aktionen. Aber wenn Taylor sein Instrument nur noch sanft mit den Handflächen berührte, dann nahmen die rotierenden Bass-Akzente William Parkers mit einem Male wirklich Gestalt an. Fataah’s Violoncello blühte auf, und Kimmig’s Violine verschwendete sich in filigrane Elegance, die nicht zuletzt an Sugar Cane Harris erinnerte. Man wünschte dem europäischen Free Jazz in den kommenden Jahrzehnten und der Institution FMP ein Mehr an wirklicher Solidarität, an kollektivem Aufeinanderbezogensein, aber auch ein Mehr an Gelegenheiten zum (finanziellen) Atemholen, wie sie für Augenblicke in den diesjährigen Konzerten im „Quartier Latin“ sich artikulierten.

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. November 1989

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