Steve Lake (1991)

ohne Titel

Strawinsky hat einmal gesagt, dass man den Wert einer Komposition frühestens dann beurteilen kann, wenn man sie zweimal gehört hat. Diese Möglichkeit steht dem Publikum freier Musik nicht offen. Improvisation ist unwiederholbar, "over, gone in the air", sobald die Musiker ihre Instrumente absetzen…wenn sich dabei kein Band gedreht hat. Natürlich sollte die Musik eigentlich live gehört werden, aber niemand, die Spieler eingeschlossen, verfügt über so empfindliche Sensoren, als dass er alle Details ihrer strukturell/rhythmisch/melodischen Entfaltung im Augenblick der Entstehung wahrnehmen könnte. The living music bewegt sich meist in einer rasanten Klangwelt, in der die Instrumentalisten schneller reagieren als denken, sich auf der Reise durch einen Gig auf Erfahrung, Inspiration und Reflexe verlassen. In der Improvisation zählt immer nur der nächste Moment - für Reflexion und besonnenes Kursabstecken ist einfach nicht genug Zeit. Plattenaufnahmen geben uns zumindest die Chance, in Ruhe zu untersuchen, was bereits geschehen ist. Dabei sind Längen unvermeidlich, endlose Passagen zuweilen, in denen die Spieler um gemeinsames Verständnis ringen - und auch von dieser Sorte hat FMP über die Jahre einiges gewissenhaft dokumentiert! In anderen Fällen dagegen scheinen Reichtum und Komplexität der Musik unerschöpflich. Fast drei Jahre nach dem Ereignis entdecke ich immer noch Neues, wenn ich mich in die 11 CD`s der Box Cecil Taylor in Berlin 88 versenke. Und das ist nur ein Beispiel.

Mit genau diesen Aufnahmen ging auch ein Abschnitt FMP-Geschichte zu Ende. 1969 hatte man das Label mit Manfred Schoofs European Echoes aus der Taufe gehoben. Der Titel (geborgt von einem Stück Ornette Colemans) wurde häufig als Eingeständnis interpretiert, diese Musik sei anfänglich nichts anderes als ein Schatten des schwarzen "Free Jazz" der damaligen Zeit oder bestenfalls eine Antwort darauf gewesen. Das hat parteiische Kritiker nicht davon abgehalten, unverzüglich für die "Emanzipation" des europäischen Jazz ins Feld zu ziehen und emsig Demarkationslinien zu ziehen. Rückblickend ist es durchaus möglich, in den frühen FMP-Meilensteinen - Machine Gun, European Echoes, The Living Music - statt dessen so etwas wie einen Brückenschlag zu vernehmen, zu dem die Amerikaner damals noch nicht in der Lage waren.

Während der 70er und 80er Jahre kam die euro-amerikanische Zusammenarbeit dann allmählich auf Touren - Don Cherry, Frank Wright, Andrew Cyrille und John Zorn teilten sich in unterschiedlichen Formationen mit Brötzmann die Bühne, Anthony Braxton und Steve Lacy traten mit Globe Unity auf, mit Leo Smith, Peter Kowald und Günter Sommer gingen Chicago, Wuppertal und Dresden eine Trio-Verbindung ein. Seit den bahnbrechenden Taylor-Festivals 1986 und 1988, die eindeutig bewiesen, dass Europas beste Improvisatoren produktiv mit einem der Initiatoren dieser Musik kooperieren können, ist es zu weiteren transatlantischen Projekten gekommen. Cecil arbeitet weiterhin mit europäischen Partnern, und unter den neueren FMP-Veröffentlichung finden sich Aufnahmen von Alex Schlippenbach und Sunny Murray, der halb amerikanischen, halb europäischen Gruppe X-Communication und dem Klavierduo Marylin Crispell/Irène Schweizer.

Free Music Production, seinerzeit als Musikerkollektiv gegründet, sollte zwar ursprünglich das Schaffen der deutschsprachigen Vertreter der Zunft dokumentieren und fördern, doch diese Politik - die angesichts der wichtigen Beiträge englischer und holländischer Musiker bereits in den Anfangstagen auf ziemlich tönernen Füßen stand - ist mittlerweile von den Ereignissen überrollt worden. Trotzdem wiesen die Buchstaben FMP auf dem Plattenrücken 20 Jahre lang darauf hin, dass es sich hier um eine Produktion unter der Regie eines Deutschen oder Schweizers handelte, die weiteren Beteiligten (in der neuen Musik ohnehin immer mehr als nur "Begleiter") konnten dagegen auch Zulus oder Japaner sein. Und waren es manchmal auch ("Kondo? Der ist kein Japaner, der ist Marsmensch." - Brötzmann) Bis vor kurzem wurden nicht von Deutschen geleitete Projekte (zusammen mit diversen Nicht-Ganz-Free-Jazz-Platten und anderen Merkwürdigkeiten) vorsichtshalber auf das Schwesterlabel SAJ verbannt, eine verwirrende und den grenzüberschreitenden Idealen der Improvisation unwürdige Trennung, die mit dem Beginn der CD-Ära nun endlich beendet wird. Jetzt ist alles FMP Musik, woher sie auch kommen mag, und gleich die erste CD-Veröffentlichung ist ein Konzert-Mitschnitt afrikanischer Perkussionsmusik. Was das mit "Jazz" zu tun hat? Alles.

Apropos CD's: Ende 1991 wird der gesamte LP-Katalog gestrichen, da FMP sich außerstande sieht, sämtliche alten Alben weiterhin auf Lager zu halten. Manche davon, besonders solche mit historischer Bedeutung für die Entwicklung dieser Musik, werden auf CD wieder veröffentlicht. Die anderen landen im Platten-Nirwana und werden zweifelsohne in ein paar Jahren in Second-Hand-Läden für beträchtliche Summen über den Ladentisch gehen.

Vielleicht hätte der eine oder andere Titel - ich denke dabei besonders an eine gewisse Sorte leichtgewichtig-klamaukiger Rundumschläge - von vornherein nicht das Licht der Welt erblicken brauchen. Andere sieht man dagegen mit Wehmut schwinden. Zuviel Sentimentalität ist jedoch nicht angebracht. Diese Musik kann sich übermäßiges Schweigen in der Vergangenheit nicht leisten. Nicht, wenn sie auch in Zukunft vorwärts gehen will.
Bei diesem Bus gibt es nur eine Endstation, und die heißt einfach - Weiter.

Übersetzung:Caroline Mähl

aus einem Katalog der FREE MUSIC PRODUCTION (FMP) 1991/92

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