Frank Hilberg (1992)

aus: „Szene Berlin“ - Initiativen versus Institutionen

(…) Wo es an einer Alternative mangelt, regt sich Eigensinn. Der Begriff „Szene“ fasst, trotz erheblicher Unterschiede im Einzelnen, einige gemeinsame Charakteristika: Eine Szene wird durch einen bestimmten Stil zusammengehalten, der sich nicht selten bewusst vom Gewöhnlichen abgrenzt und in dem sich der vitale Drang nach Ausdruck künstlerischer und intellektueller Kräfte, die durch das bürgerliche Musikleben weder befriedigt noch repräsentiert werden, realisiert. Und wenn sich das Potential an Phantasie und Aktivität in einer „Initiative“ niederschlägt, dann arbeitet sie trotz geringer und geringster Mittel wegen ihres hohen Grades an Flexibilität und Unabhängigkeit oft wesentlich effizienter als die schwerfälligen Institutionen. Im Folgenden werden vier Berliner Initiativen vorgestellt, deren Entstehung durch den Überdruss an den Ritualen des offiziellen Musikbetriebs oder durch mangelnde Präsentation von bestimmten künstlerischen Formen motiviert war und die sich durch ihre Tätigkeiten ein unverwechselbares Profil erworben haben.

Hier aus Frank Hilbergs Beitrag der zweite Teil über

Free Music Production

Wer Ohren hat zu hören, der höre: Free Music ist nicht Free Jazz! Und die FMP (Free Music Production) ist nicht das Verlautbarungsorgan von Peter Brötzmann! Doch so vehemente Töne wird man von Jost Gebers mittlerweile nicht mehr hören, wenn es darum geht eingefleischte Missverständnisse auszuräumen. Mit den knappen, trockenen Worten eines, der die Welt denken lässt was sie will, wenn sie es denn nicht besser wissen will, verweist er auf die Geschichte der - ja was? Initiative? Gesellschaft? Unternehmen? - der „Kooperative“ FMP, deren Konzerte und das Programm des Plattenlabels mit seiner riesigen Palette an Stilen und Musikern.

1969 wurde die FMP von Peter Brötzmann, Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Irène Schweizer, Jost Gebers, Rüdiger Carl und anderen gegründet - ein offenes Kollektiv von praktizierenden Musikern, dem sich bald Holländer, Engländer und eine Vielzahl weiterer Weltbürger anschlossen. Der Vollzug der Gründung ist dabei das Resultat von zurückliegenden Erfahrungen, die eine institutionelle Grundlegung anzuraten schienen. So fand bereits im November 1968 das erste Total Music Meeting, von dem noch die Rede sein wird, statt. Die Situation war mehr als unbefriedigend, einerseits gab es „das Aufgeregte auf der Straße und das Aufgeregte in der Musik“, der große politische Schub, welcher Gängelung, Bürgerpflichtenmuff und provinziellen Horizont durchbrechen sollte. Andererseits kontrollierten Promoter und Manager im großen Stil das musikalische Feld: an Auftrittsmöglichkeiten, Teilnahme an Festivals oder gar Plattenproduktionen der Freistil-Rebellen war nicht zu denken. Um die Musik so machen zu können, „wie sie ist“, war Initiative nötig.

Das vorrangige Ziel war, die Vorstellungen von der Rolle der Musik als integraler Bestandteil der Person realisieren zu können. Kurz gesagt: Das Lebensgefühl durch die Musik auszudrücken. Selbstverständlich kann ein solches Konzept nicht auf Veranstalter oder Produzenten angewiesen sein, die den Publikumsgeschmack zu bedienen haben. So blieb nur der Weg die Herzensangelegenheit selber zu präsentieren, als Veranstalter und Plattenproduzent zugleich. Bert Noglik: Zwar impliziert der improvisatorische Prozess keineswegs die dokumentarische Auf- und Nachbereitung, doch die Rezeption, Verbreitung und Entwicklung improvisierter Musik wäre ohne die Produktion von Klangdokumenten wesentlich eingeschränkt. Das betrifft sowohl de Kreis der Zuhörer als auch eine Vielzahl von Feedbacks auf die Musikentwicklung selbst.

Wenn es so etwas wie ein übergeordnetes Konzept der FMP gibt, so besteht es in der zentralen Rolle der Musiker: Von ihnen geht konzeptionelle Arbeit aus, in ihren Händen liegt alles, von der Programmplanung bis hin zur Gestaltung der Plattencover. Die Resultate sind entsprechend vielgestaltig. Die Musikalische Entwicklung der einzelnen Klangkünstler über einen großen Zeitraum zu verfolgen, ihr Habitus in den stets wechselnden Besetzungen, ihre Reaktionen in der konkreten Spielsituation, ist Zweck und Absicht der Programmpolitik. So sind denn auch die Platten meistens Live-Mitschnitte und selbst die Studioaufnahmen sind in der Regel keine Studioproduktionen, von den ca 250 Produktionen nutzen lediglich drei oder vier Studiotechniken wie Mehrspuraufnahmen, Hall, Effekte etc. Oft wird eigens für solche Projekte Publikum in das kleine FMP-Studio gebeten, um eine Live-Atmosphäre zu erzeugen, die sich positiv auf die Spielsituation auswirkt.

Für mich ist es notwendig, die Persönlichkeit zu spüren, von der Story berührt zu werden. Heute gibt es mehr und mehr Easy-listening-Musiker, so eine Art Musiklehrermusik. Die können alle gut spielen, aber haben nichts mitzuteilen; keineGeschichte mehr zu erzählen erklärt Jost Gebers, in dessen Händen von Anbeginn die Geschäftsführung lag. Es darf vermutet werden, dass sein Einfluss und Durchhaltewillen weitaus größer ist und weitaus mehr dazu beigetragen hat, die Kooperative durch die stets dräuenden Finanzwüsten und Organisationsklippen zu leiten, als er selbst bereit ist zuzugeben.

Die Leitidee, den Pool international bewährter Musiker einem thematischen Projekt zugrunde zu legen, findet sich auch stets in dem Festival Total Music Meeting, das dieses Jahr zum 25sten Mal stattfinden wird. Einst war es als Gegenveranstaltung zum offiziellen Berliner Jazz-Fest konzipiert und bot zeitlich den Gegenentwurf zu dessen kommerzieller Ausrichtung. Dort trafen stets die alten Klamotten, typische Producerideen: eine Galionsfigur spielt mit einer zusammengefummelten Begleitband. Die Musiker kommen an, gehen ins Hotel, spielen, reisen ab. Jeden Abend eine andere Band. Wir wollten stattdessen arbeitende Gruppen, es sollte bei einem mehrtägigen Festival die Gelegenheit gegeben sein, Musiker zwei oder drei mal zu hören, um die Entwicklung der einzelnen Musiker und deren Veränderungen in verschiedenen Besetzungen sichtbar zu machen. Zudem haben die Musiker die Möglichkeit, eine Panne oder einen schlechten Tag wieder auszubügeln.

Bei dem Total Music Meeting 1984 wurde dieser Gedanke monothematisch durchgeführt: 16 Pianisten spielten Solos, Duos, Trios. Ein Großteil der Nomenklatur gegenwärtiger Freistilpianistik war vertreten und hatte die Besetzungen und Reihenfolge der Auftritte unter sich ausgewürfelt. -
Mit dabei waren, um nur Beispiele zu nennen: Fred Van Hove, Misha Mengelberg, Irène Schweizer, Aki Takase, Marilyn Crispell, Ulrich Gumpert, Alexander von Schlippenbach. Die Prognosen liefen in zwei Richtungen. Erstens: es kommt keiner.Zweitens: es wird gähnend langweilig. Das Gegenteil war der Fall.

aus: NZ/Neue Zeitschrift für Musik # 11, November 1992

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