Konrad Heidkamp (1993)

Ein Tänzer am Flügel

Geschichte 1 (Kategorie: Verkanntes Genie): Der bierbäuchige Besitzer eines Münchner Jazzclubs löst sich schnaufend vom Tresen, steuert zielstrebig schwankend die kleine Bühne an, spricht mit dem Pianisten; die Musiker packen ihre Instrumente ein, verabschieden sich bedauernd nickend vom Publikum. Frühzeitiges Ende eines Engagements von Cecil Taylor in den sechziger Jahren. Rückläufige Besucherzahlen, sinkender Alkoholumsatz und musikalische Belästigung des fingerschnippenden Stammpublikums als Kündigungsgrund. Die Geschichte wiederholt sich, in Europa, in den USA (Manchmal fürchten die Clubbesitzer auch um ihre schlechtgestimmten - Flügel). Geschichte 2 (Kategorie: Unnahbarer Klaviergott): Ja, nein, ja, nein, ein Interview sei grundsätzlich möglich, aber das Konzert beginne um 20 Uhr. Mr. Taylor übe von 15 bis 19 Uhr. Danach eine Stunde Konzentration. Dann das Konzert. Leider. Cecil Taylor spielt zwei Stunden. Und danach? Er scheint weniger erschöpft als sein Publikum. Die Fragen haben sich in Musik aufgelöst. Die Geschichte wiederholt sich, in Variationen. Geschichte 3 (Kategorie: Cecil Taylor als unbeschreibbare Sucht): Man pilgert jeden Abend, eine Woche lang, zu einer Konzertreihe mit Cecil Taylor, versucht, die Musik in Worte zu fassen, Gefühle zu beschreiben, und steht doch hilflos vor Klischees, Bildern und Superlativen: „der perkussivste, der intensivste, orchestralste, radikalste, experimentierfreudigste, kompromissloseste" Musiker und Pianist des modernen Jazz (Avantgarde? Kunstmusik?) Über Cecil Taylor zu schreiben heißt auch über die Grenzen des Musikjournalismus reden. Musiktheoretische Analyse, ergriffene Sprachlosigkeit, lyrische Assoziationen oder kleine Anekdoten alles ist möglich, alles stimmt und verflüchtigt sich doch angesichts dieser Musik. Also doch Biographisches? Am 25. März in Long Island City, New York, geboren, eben sechzig geworden (laut neunzig Prozent der Lexika), und da melden glaubwürdige Zeugen, vor vier Jahren bei seinem Sechzigsten in New York mitgefeiert zu haben.

Gesichert ist auf jeden Fall, dass er 1956 mit einem Engagement im New Yorker „Five Spot" zum ersten Mal einem größeren Publikum bekannt wurde, dass er mit seinem verqueren Spiel einige Musiker (und Clubbesitzer) zur Verzweiflung brachte, sich mehr Feinde (Miles Davis, Dizzy Gillespie) als Freunde (?) machte und Anfang der sechziger Jahre, als er erstmals auf der Titelseite der amerikanischen Jazz Bulle Down Beat erschien, als Tellerwäscher, Imbissausfahrer und Sozialhilfeempfänger sein Leben bestritt. Pianistischer godfather des Free Jazz, einer Revolution, die im Wesentlichen ein Aufschrei des Sounds der Saxophone war: John Coltrane, Albert Ayler, Ornette Coleman. Gesichert und doch belanglos. Cecil Taylors Musik hat sich nach dreißig Jahren von jedem Lexikoneintrag, von jeder Kategorie gelöst. Vielleicht nennen manche das noch immer Free Jazz, vielleicht hören viele die klassische Ausbildung am Konservatorium (Strawinsky! Bartok! Chopin!) in Verbindung mit traditionellen Elementen der Jazzmusik, wahrscheinlich verstört viele noch immer die pure Energie seiner Konzerte - „The World Of Cecil Taylor", wie eine seiner frühen Platten heißt, ist inzwischen zu einem eigenen Kosmos geworden. Ein Kosmos, den man sehen muss - zumindest einmal im Leben, um zu begreifen, was da zu hören ist.

Tief über den Flügel gebeugt, huschen seine Finger über die Tasten. Er streichelt sie, lockt, überredet, bespricht sie, fordert und schlägt darauf ein. Wie selbstverständlich schreit er dann auf, wenn die Spannung sich nicht in Töne auflösen lässt, spielt dann erlöst weiter. Jeder Ton klingt für sich, ist präzise zu vernehmen, und verbindet sich doch in rasender Geschwindigkeit mit siebenundachtzig anderen. Eine Bewegung, die von den Füßen, den Zehen ausgeht, sich über den Körper fortsetzt, bis sie in den Fingerspitzen endet - die Taste trifft. Ein Tänzer am Flügel, der die Choreographie eines Balletts in Musik verwandelt. Themen tauchen immer wieder auf, nachdem man dachte, sie verloren zu haben; Klangfarben, die links als Cluster gespielt wurden, erscheinen rechts als extrem schnelle chromatische Läufe. Melodien reduzieren sich auf ein, zwei Töne, dazwischen bleiben Räume, werden Cluster eingeschoben, die nicht mit der Handfläche oder dem Arm angeschlagen, sondern durch Einzelnoten in rasender Geschwindigkeit erzeugt werden, bis sie als einzige Klangfläche zu hören sind. Es ist ein Spiel von Ruf und Antwort, von korrespondierenden Klängen, von Spannung und Entspannung, eingebettet in ein System, das dem Rhythmus Afrikas so nahesteht wie den religiösen Suiten Duke Ellingtons, wie der Harmonik europäischer Moderne - mit einem Wort, dem System „Cecil Taylor".

Mehr als sechzig Platten oder CDs dürfte Cecil Taylor inzwischen eingespielt haben, und stärker als bei jedem anderen speichern sie das Elend der Schallaufzeichnung. Diese Musik steht für sich auch als Konserve , und doch vermisst man die Bewegungen dieses Moriskentänzers, der sich mit Vorliebe in Trainingsanzügen, weiten Hemden und dicken Wollsocken dem Totem des Bösendorfer nähert, ihn mit Rufen, Gedichten, Schreien beschwört, bis er sich schließlich setzt und das magische Ritual zelebriert. Kaum vorstellbar, wer sich da zu Hause niederlässt, von Tür- und Telefonklingel bedroht, von lustvoll Privatem abgelenkt, und sich ein Stück - meist über eine Stunde - anhört. Und nebenbei ist diese Musik nicht zu hören. Man kann nicht lesen, sich nicht unterhalten, nicht essen, nicht üben. Nichts - außer ihr zuzuhören. Cecil Taylors Gesamtwerk spiegelt auch - und noch immer - das Elend des schwarzen Künstlers in den USA. Kaum ein Dutzend seiner Platten wurden in Amerika aufgenommen, auf amerikanischen Labeln veröffentlicht. Obwohl der in Brooklyn lebende Pianist seit den siebziger Jahren mehrere Preise, Stipendien und Lehraufträge an Universitäten in den USA erhielt, sind es vor allem europäische Firmen - und hier in erster Linie Jost Gebers Berliner Label FMP, die seine Musik akribisch und gigantisch („Cecil Taylor in Berlin 88" mit dreizehn CDs) dokumentieren. Und da steht man dann, staunend und eingeschüchtert, liest in dicken Begleitbüchern, Aufsätzen und liebevollen Paraphrasen, genießt die klugen Analysen eines Ekkehard Jost und endet da, wo man angefangen hatte: Cecil Taylors Musik „erzählt keine Geschichte, verweist weder auf Vergangenheit noch auf Zukunft, sondern ist Gegenwart: ein Bewegungszustand, in den man sich als Hörer quasi hineinwirft, dem man sich aussetzt, von dem man fortgerissen wird, „ohne sich Gedanken über das Woher oder Wohin zu machen" (E. Jost) Also, keine Geschichten!

Cecil Taylor 1: „Ich meine, dass die Emotion den Intellekt informiert und nicht umgekehrt". Cecil Taylor 2: „Das, was den Jazz so spannend macht, ist die Tatsache, dass jeder Musiker seine eigene Akademie ist". Cecil Taylor 3: „Man kann die Menschen nicht dazu zwingen, sich für magische Momente in der Musik zu interessieren".

Cecil Taylors Musik beschreibt eine Grenze: zwischen nett erzählten Anekdoten und Musik, zwischen Musikjournalismus und Musik, zwischen Musik und Musik. Wem Musik zu gefährlich erscheint, sollte Cecil Taylor vergessen. Und seine Konzerte sind gefährlich. Wer ihn einmal gehört hat, hat einmal die Grenze überschritten.

aus: Die Zeit # 14, 2. April 1993

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