Felix Klopotek (2009)

Tschüss! Vierzig Jahre FMP

»Tschüss! Schade, dass ihr schon wieder geht!
Ist es denn tatsächlich so spät?
Na dann lebt wohl, grüßt alle Freunde von uns.
Tschüss! Nett von euch, dass ihr heute kamt,
dass ihr euch die Zeit einmal nahmt.
Hat sich’s gelohnt? Kommt gut nach Hause!«
Schlager aus der DDR,
Text: Dieter Lietz, Melodie: Walter Kubiczek.
Vorgetragen von Peter Brötzmann,
begleitet von Fred Van Hove und Han Bennink,
auf LP FMP 0230


Vierzig Jahre FMP - ein Grund zum Feiern. So die handelsübliche Phrase.
Vierzig Jahre FMP, das ist aber auch ein Grund aufzuhören.

Die Free Music Production ist seit ihrer Gründung kontinuierlich an eine Person gebunden gewesen: Jost Gebers. Verstehen wir uns nicht falsch, das ist kein Auftakt zum Geniekult: Gebers war immer auf ein künstlerisches, freundschaftliches, kulturpolitisches und auch geschäftliches Umfeld angewiesen, das die so verästelten Strukturen dieses Labels belebt hat und erst hervorgebracht hat. Dieses Umfeld gab Gebers die Sicherheit, sich dem permanenten finanziellen Desaster auszusetzen, das da heißt: Festival- und LP-Produktionen von Freier Musik. Hätte Gebers 1968/69, als sich die Gründung von FMP anbahnte, gewusst, was da alles auf einen zukommt, hätte er gewusst, dass es wohl nie einen Nachfolger hätte geben können, der das Label im Geiste der Gründerjahre weiterführte – er hätte es vermutlich bleiben lassen.

Schwere Krisen gab es genug, in den angeblich so goldenen 70er und 80er Jahren stand das Label kurz vor dem Aus. Ohne den Zuspruch von außen, hätte Gebers hingeschmissen: Mal intervenierte Peter Brötzmann, der sich wie kein anderer Musiker für das Label engagierte und mit einer wahren Flut an Zukunftsplänen Gebers überzeugte, das Label doch noch weiterzuführen. Mal war es eine kluge Kulturpolitikerin wie Nele Hertling, die Gebers in Berlin immer wieder die Räume für freie musikalische Erfahrung öffnete.

Die Fäden liefen bei Gebers zusammen. Und je lebendiger, vielschichtiger, wuseliger, internationaler dieses Umfeld wurde, desto mehr Fäden musste er in den Händen halten. Wer kann die alle sortieren? Wer behält da noch Nerven und Übersicht? Gebers hat schon in den 90er Jahren signalisiert, dass er sich zurückziehen werde. Zu dem Zeitpunkt war klar, dass die Berliner Politik so etwas Exotischem und Widerspenstigem wie Free Jazz immer weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stellen würde. Zu dem Zeitpunkt war aber auch klar, dass immer weniger an FMP hängt, und dies ist eine gute Nachricht! Denn seit etwa 15 Jahren gibt es eine neue Generation von Musikern, Produzenten, Labels und auch Veranstaltern, die für Freie Musik vehement eintreten. FMP selbst ist kein kommerziell erfolgreiches Geschäftsmodell geworden (was auch unmöglich gewesen wäre, verdankt sich das Label doch einer einmaligen biographischen-zeitgeschichtlichen Konstellation), aber die Idee, die am Anfang stand - Freie Musik ungeschmälert, kontinuierlich und abgewandt von den Irrungen des Zeitgeistes zu produzieren - hat sich verbreitert. Gebers ist schon lange kein Einzelkämpfer mehr. Wenn er jetzt aufhört, dann besteht nicht länger die Gefahr, dass mit dem Verschwinden des Aktivposten FMP auch die Werke der Musiker verschwinden.

Gebers, der in den letzten Jahren ein unfreiwillig kurioses, wenn man so will: erzwungenes Comeback feierte (darüber ist noch zu sprechen!), kann also aufhören. Was bleibt, ist keine Sammlung von Anekdoten, auch keine betriebswirtschaftliche Bilanz, auch keine Sammlung mittlerweile hoch gehandelter Tonträger, sondern schlicht und einfach: ein Stück Musikgeschichte.

Wie Werke entstehen
Der Veröffentlichungskatalog spricht für sich, weil die Namen für sich sprechen. Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Hans Reichel, Ernst-Ludwig Petrowsky, Rüdiger Carl, Steve Lacy, Sven-Åke Johansson - um nur einige zu nennen. Das Werk dieser Musiker, zumindest der harte Kern ihres Werks, ist auf Tonträgern der Free Music Production dokumentiert - über Jahre, Jahrzehnte hinweg. Die Frage nach der Bedeutung der FMP erledigt sich damit von selbst.

Tatsächlich? Man kann sich den Spaß gönnen, dieses Übermaß an Relevanz zu hinterfragen, zurechtzustutzen: Die FMP gründet sich im September 1969. Zu diesem Zeitpunkt ist die Sturm-und-Drang-Phase des Free Jazz vorbei. Diese Musik - in all ihren mannigfaltigen Ausprägungen - hat ihren ersten Hype hinter sich, zuerst in Amerika (1964), dann in Europa (1966-1968). 1969 gibt es bereits in ganz Europa kleinere und größere Inseln der Freien Musik, die Musiker haben ihre ersten unabhängigen Festivals initiiert, gründen eigene Plattenfirmen, einige konnten auch für größere Labels aufnehmen. Die Gründung von FMP markiert mitnichten den Urknall des europäischen Free Jazz, fast alle Musiker der ersten Generation haben bereits ihre ersten Produktionen vorgelegt, 1969 ist das berühmte Manfred-Schoof-Quintett bereits Geschichte, hat Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra seinen ersten Zenit bereits überschritten, hat Peter Brötzmann durch die selbstverlegten LPs »For Adolphe Sax« (1967) und »Machine Gun« (1968) Unsterblichkeit erlangt. Auch die angebliche Identität von FMP und deutscher Free-Jazz-Szene erweist sich als nachträgliche Projektion: Abseits der FMP gibt es 1969/70 in Frankfurt (um Alfred Harth), Wiesbaden (um Michael Sell und Dieter Scherf) und Karlsruhe (um Herbert Joos) kleine Zirkel der Freien Musik, die unabhängig von der Achse Köln-Wuppertal-Berlin, der gut geölten FMP-Schiene, existieren.

Die Bedeutung von FMP liegt also nicht darin, dass es einen Aufbruch darstellt - umgekehrt: das Label resultiert aus einem Urknall, steht für das Bemühen, diese stets prekäre, da fundamental nonkommerzielle Musik zu konzentrieren, in institutionell geregelte Bahnen zu lenken. Und das gelingt - es gelingt der FMP wie keinem anderen Label, das sich der Freien Musik verschrieben hat. Durch die Beharrlichkeit, durch nachgerade preußische Zähigkeit wächst ein Backkatalog heran, der jenen Musikern, die seit Mitte der 60er Jahre so schockartig die europäischen Jazzbühnen von Epigonentum und verklemmten Anbiederungen an Neuer Musik frei geblasen haben, ein Werk verschafft. Die Kontinuität FMPs ist in Wirklichkeit die Kontinuität der Musiker. Free Jazz - oder Freie Musik oder Improvisierte Musik oder… lassen wir an dieser Stelle den alten Streit um die richtige Zuschreibung auf sich beruhen - Free Jazz ist dank FMP keine Epoche, kein Hype, kein Betriebsunfall der Jazzgeschichte. Es ist, in den Worten Alexander von Schlippenbachs, »the living music«, im Gegensatz zum Schicksal aller anderen Spielarten des Jazz keine geronnene Musik. In der freien Improvisation selbst, in dem also, was den Kern des Free Jazz ausmacht, liegen die Kräfte der Selbsterneuerung. Dass diese Kräfte beharrlich zu Tage gefördert wurden, verdankt die Musikwelt FMP.

Starke Worte. Gibt es denn, nüchtern betrachtet, nicht weit aus mehr schlechte als gute Free-Jazz-Produktionen (so wie in allen anderen Genres auch)? Richtig. Gibt es nicht, trotz des Kultes um die ewige Kraft der Erneuerung, die Improvisation, nicht schrecklich viel Epigonentum? Bis hin zur Stagnation bei den Musikern, die vor vierzig Jahren bei der Gründung der FMP Pate standen? Auch richtig.

Und überhaupt: FMP ist ein Label in Berlin, hatte bis Anfang der 90er Jahre seinen unüberhörbaren Schwerpunkt in Produktionen mit deutschen Musikern. Wie kann man daraus einen historischen Alleinvertretungsanspruch ableiten? Es gab und gibt doch auch andere zentrale Labels - ICP in Holland, Incus und Ogun in England, auch in Deutschland: Paul Lovens’ Po Torch, Gunter Hampels Birth!

Es geht um einen Unterschied, ums Ganze: Die meisten der kleinen Free-Music-Labels gründen sich nicht auf einen Konsens, sondern auf einen Akt der Selbstbehauptung. Improvisator X sieht sich durch andere Labels, zumal durch solche, die Gewinne erwirtschaften wollen, nicht ausreichend repräsentiert und gründet sein eigenes, das seine Musik und die seines Umfeldes endlich angemessen repräsentiert. Das Gründungsmanifest der FMP, die Session vom Juni 1969, die »European Echoes« genannt wurde und wundersamer Weise Manfred Schoof zugeschrieben wird (kurios ist dies deshalb, weil es sich de facto um eine Kollektivimprovisation mit Solofeatures aller Beteiligten handelt), ist von 16 Musiken unterschrieben: Enrico Rava; Manfred Schoof; Hugh Steinmetz; Peter Brötzmann; Gerd Dudek; Evan Parker; Paul Rutherford; Derek Bailey; Fred Van Hove; Alex Schlippenbach; Irène Schweizer; Arjen Gorter; Peter Kowald; Buschi Niebergall; Han Bennink; Pierre Favre. Mindestens sieben von ihnen, allesamt höchst unterschiedlich in Neigung und musikalischem Temperament, gehören in den folgenden Jahrzehnten zum harten Kern der FMP. Das Label ist von Anfang keiner Szene und keiner »Familie« verpflichtet, sondern einem europäischen Netzwerk (an dem, erst am Rande, später im Zentrum, amerikanische Kollegen partizipieren). Deshalb steht FMP eben nicht nur für das Werk von Brötzmann oder Kowald oder Reichel, sondern dokumentiert relevante Werkphasen von mindestens drei Dutzend anderer Kollegen. Von Irène Schweizer bis Cecil Taylor, von Radu Malfatti bis Charles Gayle, von Martin Theurer bis Evan Parker, von Michel Pilz bis Manfred Schulze.

Wie Musik entsteht
Streng genommen sind die (Anti-)Festivals 1) und Konzertreihen der FMP wichtiger gewesen als die LP-Produktionen. Zumindest gehen sie ihnen voraus. Fast alle FMP-Produktionen sind im Umfeld dieser Festivals und Konzerte aufgenommen worden. Entweder handelt es sich direkt um Konzertmitschnitte oder aber um Aufnahmesessions, die nur deshalb anberaumt wurden, weil Gebers und den Musikern die livemusikalische Auseinandersetzung eingeleuchtet hatte. Die Festivals der FMP waren Laboratorium und Schaubühne, marktschreierischer Messestand und Meditationsraum für Selbstreflexion. Der Workshop Freie Musik und das Total Music Meeting sollten keine Produkte vorstellen, sondern Arbeitsprozesse, die verschlungenen Wege der Kreativität, dokumentieren und für das Publikum nachvollziehbar machen. Natürlich ging es auch um Abgrenzung vom Etablierten, von herbstlichen Berliner Jazztagen mit dem vermeintlich so repräsentativen Programm: »Bei den Jazztagen standen halt oft irgendwelche Lottokapellen auf der Bühne, die der [Joachim-Ernst] Berendt zusammengestellt hatte, « schildert Gebers die Motivation, im November 1968 das erste TMM im Quasimodo durchzuziehen, » und dazu hatte natürlich überhaupt keiner Lust. Wir wollten vor allem die Möglichkeit bieten, dass sich feste Konstellationen so präsentieren konnten, wie sie halt arbeiteten. Es gab dann sehr schnell auch offene Konstellationen, denn das sprach sich natürlich in Windeseile herum, die Morgenstunden in dem Laden waren schon prima.« 2)

In der Szene selbst gab es den Drang, die isolierten Kräfte - man wurstelte in den örtlichen Studentenkneipen vor sich hin - zu bündeln, sich auch international zu vernetzen. In Köln wurde 1968 mit einem autonom organisierten Festival in einer Tiefgarage gegen das Jazzestablishment der Anfang gemacht. Das Total Music Meeting, und auch der im Frühjahr 1969 erstmals in der Westberliner Akademie der Künste organisierte Workshop Freie Musik, sollten die Fortsetzung bilden. Peter Brötzmann war eine der treibenden Kräfte, seine rheinländischen Kollegen Schlippenbach, Schoof und Kowald zogen mit, in Berlin ließ sich der Bassist Jost Gebers von der Idee anstecken. Er nutzte vor Ort seine Kontakte, organisierte ein bisschen, sprach Leute an, suchte nach Orten. Noch war kein Label geplant, es war nicht abzusehen, welche Dynamik der Berliner Betrieb bald bekommen sollte.

Rückblickend fällt es schwer, die Unterschiede zwischen Total Music Meeting und dem Workshop zu bestimmen. Das TMM brachte Gruppen, die über mehrere Auftritte hinweg ihre Musik vorstellten. Der Workshop legte den Schwerpunkt auf die dynamischen Prozesse in der Musik selbst: öffentliche Proben, offene Konstellationen, Konzerte ohne fixes Ende, nachmittags Spiel und Spaß mit Kindern, die Brötzmann oder Han Bennink vermutlich wie Zirkuswesen bestaunt haben dürften (jedenfalls sorgten die Kinder-Workshops offensichtlich nicht für einen Boom Freier Musik in den 80er Jahren…). So die Tendenz. 3)

Es gab Schlägereien, als Bluesfans 1969 auf dem ersten Workshop, »3 Nights Of Living Music And Minimal Art« lieber Alexis Korner als das Schlippenbach Nonet hören wollten. Es gab regelmäßig lange Gesichter, wenn Zuschauer, in der Hoffnung auf endlose Sessions, eigene Instrumente mitbrachten, aber selbstverständlich nicht auf die Bühne gelassen wurden. Es gab Musiker, die nie die Bühne betraten, weil andere Bands einfach nicht aufhören wollten und Gebers sie irgendwann um vier oder fünf ins Hotel schicken musste (immerhin, die Gage wurde bezahlt). Es gab das Ostberliner Haus der Jungen Talente, das spätere Podewil, wohin das Total Music Meeting 1991 umzog. Es gab zahlreiche Berliner Konzertreihen - Free Concerts at Townhall (Rathaus Charlottenburg, 1970-1995), Summer Music (Haus am Waldsee, Zehlendorf, 1980-1995), Just Music (im FMP-eigenen Studio, Wedding, 1986-1989), zwischen 1970 und 1993 insgesamt zwölf Specials (außerhalb von Berlin spiegelte sich die Programmatik von FMP in Wuppertaler Free-Jazz-Workshops und den ersten Ausgaben des New Jazz Festivals in Moers). Es gab regelmäßige Konzerte und Aufnahmesessions in der Kneipe Flöz. Und schließlich gab es von öffentlicher Hand immer weniger Geld. Wenn man sich heute die Liste der Konzertaktivitäten anschaut, auf der Homepage des Verlags lassen sie sich nachvollziehen, dann ist man nicht so sehr erstaunt, was es alles gegeben hat, sondern was alles von einer bornierten Kulturpolitik geopfert wurde.

Gebers & Co.
FMP, das war eine Musikerinitiative. So geht die populäre Vorstellung. Meistens ist die Rede von einer Gründergeneration, bloß weil es eben so ist, dass sich Musiker in erster Linie um ihre eigene Musik kümmern und dabei auch recht ruppig vorgehen müssen, habe sich das operative Geschäft bereits in frühen Jahren auf eine Person zugespitzt, den Musiker mit den wenigsten Karriereambitionen: auf Jost Gebers.

Die Geschichte ist, wie soll man sagen? gefühlt richtig. Den Tatsachen entspricht sie nicht. FMP war nie eine Musikerinitiative. Richtig ist, dass es vor FMP einen Versuch der Selbstorganisierung gab, der kurzlebig war und schnell scheiterte. Richtig ist auch, dass es in der Szene das Bedürfnis gab, Kräfte zu bündeln, um möglichst günstige kulturpolitische wie ökonomische Bedingungen für die marginalisierte Musik herauszuschlagen. Treibende Kraft bei diesen Bemühungen war Peter Brötzmann, er war es, der Gebers im Sommer 1969 dazu überredete, ein Management aufzuziehen und in diesem Zusammenhang auch Platten zu verlegen. Die Idee des Managements ließ Gebers bald fallen, das Vorhaben, LPs zu veröffentlichen, realisierte er dagegen schnell, im Spätsommer gründete sich die FMP, Ende 1969 erschienen die »European Echoes« unter der Leitung von Manfred Schoof. (Der Titel dieses extremistisch überbordenden Albums klingt wie eine krasse Reaktion auf den gleichnamigen, bewusst naiven Walzer Ornette Colemans. Gebers ist sich aber sicher, dass Bezüge zu Colemans ironischen Grüßen an Europa überhaupt keine Rolle spielten.) Die Geschicke von FMP lagen von Anfang an in Gebers Händen.

Es existierte natürlich ein Milieu, die »European Echoes« sind schließlich eine Art Gründungsdokument. Aber dieses Milieu, also diese größere Gruppe von jungen Musikern, war nicht involviert ins eigentliche Geschäft. Im Gegenteil: »Und wir dachten, OK, da sind alle dabei, machen wir ’ne Platte. Das Resultat war eine große Aufbruchstimmung, große Euphorie. Natürlich, weil jeder dachte, wunderbar, wir haben jetzt eine Organisation, jetzt geht es furchtbar los. Es ging natürlich gar nichts los. Es ging erstmal nach hinten los. Schön, du hast zwar 500 Platten, aber die musst du erstmal verkaufen. Und du hast eine Idee, die musst du dann auch umsetzten. Es kam also ein riesige Durststrecke und natürlich stiegen einige dann wegen der ausbleibenden Möglichkeiten auch rasch wieder aus. Und blieben weg, mit Ausnahme von Brötzmann.« 4)

Unter den ersten zehn Alben sind acht, an denen Brötzmann beteiligt ist, darunter vier Originalproduktionen und zwei Wiederveröffentlichungen. Im Mittelpunkt dieser frühen FMP-Aktivitäten steht unweigerlich das Trio um Peter Brötzmann, Fred Van Hove und Han Bennink (ergänzt um Albert Mangelsdorff). Dieses Trio weist den Weg in die 70er Jahre: Auffächerung der Musik, Diversifizierung der Stilmittel, weg vom Powerplay, Einbezug von Zitaten, ironischen Gesten und außermusikalischen Aktionen. Das Brötzmann Trio kann richtig abgehen, es kann sich aber auch dem Freejazzig-Energetischen komplett verweigern, was bis zur Ignoranz der Musiker gegeneinander reicht. Links der grüblerische Van Hove, rechts Bennink, bruitistisch, in den Wolken: Brötzmann. Es ist ungemein schwierig, die Prozesse diese Gruppe auf einer LP nahvollziehbar zu machen, dementsprechend sind die Veröffentlichungen dieser Gruppe keine geschlossenen Werke, sondern gleichen disparaten, zerklüfteten Artefakte. Umso höher muss man es würdigen, dass diesem Trio in den frühen Jahren der FMP so viel Platz eingeräumt wurde. Brötzmann, Van Hove und Bennink nehmen die Stil-Vielfalt, die ab 1975/76 das eigentliche Merkmal der FMP-Produktionen wird, vorweg.

1972 ändern sich für FMP die Arbeitsbedingungen: Jetzt erst wird das Label zu einer Musiker-Kooperative. Neben Gebers steigen Peter Brötzmann und dann Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach und der Wuppertaler Schlagzeuger Detlef Schönenberg ein. Vier Jahre geht das halbwegs gut, dann haben sich die Konflikte soweit verschärft, dass FMP vor dem Ende steht. Gebers ist von dem mangelnden Engagement der Musiker enttäuscht, diese sind wiederum frustriert, dass FMP nicht zu ihrer alleinigen Verfügung bereit steht. Man trennt sich. Gebers will das Handtuch schmeißen, abermals ist es Brötzmann, der ihn zum Weitermachen motiviert. Künstlerisch hat die Trennung sowieso keine Auswirkungen, Schlippenbach und Kowald bleiben Musiker, die alle ihre Projekte, nach Abstimmung mit Gebers, auf FMP veröffentlichen können (nur Schönenberg wird sich zurück ziehen, erst von der FMP, dann, ab Anfang der 80er Jahre ganz aus der Musik, womit die Improvisierte Musik einen ihrer klangsensibelsten Schlagzeuger verliert).

Nachdem ab 1976 endgültig klar ist, dass geschäftlich gesehen Gebers die alleinige Verantwortung tragen wird, nutzt er die Chance des Risikos und öffnet FMP für junge, noch unbekannte Musiker: für das Georg Gräwe Quintett, für Martin Theurer und Elmar Kräling, für den Schweizer Pianisten Urs Voerkel.

An dieser Stelle muss man einhaken - Gebers ist kein Produzent im klassischen Sinne, kein Meta-Musiker, der durch die Organisation von Sessions und die Auswahl der Musiker indirekt direkt Einfluss auf die Musik nehmen will. Er macht die Platten, aber die Musik macht ihn. In Interviews und Gesprächen betont er stets, dass er lange Zeit nie wusste, was nächstes Jahr mit FMP passieren wird. 300 LP- und CD-Produktionen täuschen darüber hinweg, wie groß der Faktor Zufall gewesen ist, und dazu gehören auch die verpassten weggeschmissenen Chancen, z.B. ein Auftritt der Brötzmann Group mit Don Cherry und dem Hardcore-Elektroniker Hugh Davies, das aufzunehmen man schlicht verpasst hat. Oder ein Konzert von Peter Brötzmann und dem Fusion-Pianisten Jasper van’t Hof, dessen Bänder irgendwann gelöscht wurden.

Gebers hat niemals von FMP gelebt, im Gegenteil zusammen mit seiner damaligen Frau Dagmar Gebers hat er jährlich größere Summen in das Label gesteckt. Das Label produzierte satte Verluste. Eine regelmäßige Förderung gab es nur für den Workshop Freie Musik, ausländische Improvisatoren - es war ein hartes Ringen mit den Kulturinstitutionen - erhielten erst ab 1978 DAAD-Stipendien, der erste war John Tchicai. Das Total Music Meeting war finanziell gesehen das sprichwörtliche Fass ohne Boden, ein Drittel der LPs konnten sich nicht durch ihre Verkäufe refinanzieren und waren auf Querfinanzierung durch die wenigen erfolgreichen angewiesen - in der Regel LPs von, Überraschung!, Peter Brötzmann. Dieter Hahne, seit 1975 als Bürokraft und unermüdlicher Organisator an Bord, bezog ein auch für Berliner Verhältnisse bescheidenes Gehalt.

Das alles ging nur deshalb halbwegs gut, weil Gebers einen Brotjob hatte, den er auch bis zu seiner Pensionierung 2002 durchzog. Er war Sozialarbeiter in einem Charlottenburger Jugendclub (in dessen Keller richtete er das erste FMP Studio ein). FMP war für ihn und Dagmar eine Feierabendveranstaltung. Urlaub gab es nicht, der ging für die Organisation und Durchführung der Festivals drauf, Reisen fanden nicht statt, es sei denn, Gebers musst auf irgendeinem Wuppertaler Free-Jazz-Workshop Technik machen. Richtig raus aus Berlin - und dann direkt nach New York - ging es für ihn erst 1983, auch dies verbunden mit der Mitarbeit an einem Festival (Sound Unity).

Gebers war auf das Milieu angewiesen, auf Gedeih und Verderb, er konnte ja nicht durch die Lande fahren und neue Bands und Musiker aufstöbern. Schlippenbach empfahl Theurer und Kräling, Irène Schweizer, die ebenfalls zum engsten FMP-Kreis zählte, brachte Urs Voerkel ins Spiel, Han Bennink stellt das westafrikanische Percussionsensemble Africa Djolé vor (was FMP zu allem Überdruss noch zu einem Vorreiter in Sachen Weltmusik machte). FMP pflanzte sich über die Empfehlungen von Musikern fort - und durch die Kreativität der Musiker selbst, jemand wie Peter Kowald brachte mit seinen zahlreichen Duett-Ideen, seinem utopischen Trio mit Wadada Leo Smith und seinem post-postmodernen Global Village Combos ständig neue Klangfarben ins Spiel. Rüdiger Carl stellte, scheinbar ganz brav mit einem Akkordeon ausgerüstet, den Free Jazz auf den Kopf und formt aus ekstatischen Improvisationen (Pharoah Sanders!) anmutige Seemannslieder 5). Sven-Åke Johansson nutzt auf zahlreichen Spezialproduktionen die Gelegenheit, sein Paralleluniversum zwischen Pappmaché-Schlagzeug und Cool Jazz auszubuchstabieren. Andere kommen wie aus dem Nichts, der Hagener Gitarrist Hans Reichel etwa, der 1969 nach Wuppertal zieht und bald schon zum FMP-Kreis zählen wird. Reichel spielt auf selbstentwickelten Gitarren eine Musik, die keine Vorbilder zu kennen scheint - weder Jimi Hendrix noch John Fahey noch Derek Bailey, die Gitarrenhelden dieser Jahre, kann man bei ihm entdecken, und dennoch ist seine Musik folkig wie die von Fahey, bluesig wie die von Hendrix und so freigeistig idiosynkratisch wie die Baileys.

Unmittelbar neben FMP blüht SAJ auf. Ein Seitenstrang von FMP, ursprünglich gegründet, um eine bereits veröffentlichte Eigenproduktion von Sven-Åke Johansson ins Programm zu hieven, daher die Initialen. SAJ verselbständigt sich schnell, zunächst bringt Gebers dort Alben unter, die einem anderen Abrechnungsmodus unterliegen, dann folgen LPs, die noch für FMP zu ungewöhnlich sind. (Später wurde interpretiert, bei SAJ handele sich um die Abteilung für ausländische Musiker, während FMP Westdeutschen, DDR-Musikern und Schweizern vorbehalten gewesen sei. 6) Das, so Gebers, war aber nie intendiert.) Rückblickend erscheint die Aufteilung der Labelarbeit in FMP und SAJ und die weitere Verschachtelung - von 1982 bis 1985 kommt Uhlklang hinzu, ab 1984 folgt noch eine S-Serie, die wundersamerweise für Sven-Åke Johansson reserviert scheint - wenig schlüssig, zumal diese Verschachtelung mit dem Beginn der CD-Edition beendet wurde. Aber es ging ja nie um den Masterplan, es ging um die Ideen sprunghafter Musiker.

Es ging auch ums Überleben! 1983 war denn auch die Luft draußen, die beiden Gebers waren finanziell ausgepowert, zumal Dagmar ein Jahr zuvor ihren Job verloren hatte, das Label stolperte über steuerliche Hürden. Vorsorglich kündigte man das eigene Ende an. Aber es ging weiter, irgendwie. 1984 übernahm »Pläne« den Vertrieb der FMP- und SAJ-LPs, was zunächst einiges an Entlastung mit sich brachte. Dieter Hahne machte sich in den alten Büroräumlichkeiten mit einem Plattenladen selbstständig, während Gebers in eine Weddinger Fabriketage zog - der frühere Proberaum Alexander von Schlippenbachs - und dort begann, ein Studio aufzubauen. Das Studio war 1986 fertig gestellt, erst 1989 erhielt FMP eine permanente institutionelle Förderung durch den Berliner Senat. Diese garantierte das Total Music Meeting, die erneute Anstellung Dieter Hahnes (1993) und den weiteren Betrieb des eigenen Tonstudios (der dann aber schon 1993 aus finanziellen Gründen eingestellt werden musste).

»Mitten im Kapitalismus auf dem Felde des Kapitalismus gegen den Kapitalismus anspielen, antreten...«, so hat der große Journalist und Autor Wilhelm Liefland die Rolle FMPs beschrieben. 7) Liefland, der 1980 den Freitod wählte und dem FMP eine ihrer schönsten Editionen, die Doppel-LP »Snapshot. Jazz aus der DDR« widmete, war ein inspirierter Free-Jazz-Enthusiast und konsequent linker Musikkritiker. Aber er verfehlt die Rolle des Labels. FMP war kein antikapitalistisches Unternehmen, Gebers hätte kommerziellen Erfolg als sehr angenehm empfunden. FMP war vielmehr ein nichtkapitalistisches Unternehmen, konstitutionell unfähig Gewinn zu erwirtschaften, zumindest einen so hohen, der allen Beteiligten einen erträglichen Unterhalt garantiert hätte.

Wie klingt eigentlich Peter Brötzmann?
Durch verschiedene Statements aus dem Umfeld der FMP geistert der Schlachtruf: Brötzmann klingt bei uns wie Brötzmann, Bennink klingt wie Bennink, Lovens wie Lovens. Die Aufnahme- und Produktionsästhetik folgt der Musik, nicht umgekehrt. Der Plattenproduzent muss sich an die Vorgaben der Musiker halten: Sven-Åke Johansson weigerte sich während einer Aufnahmesession mit dem Vibrafonisten und Pianisten Karl Berger seine alle weiteren Klänge zudröhnende Frequenzen produzierende Basstrommel höher zu stimmen. Gebers musste darauf hin die Aufnahme abbrechen. (Ob er sich darüber sehr geärgert habe? Nein, meint Gebers, kaum, so sei das nun mal gewesen.)

Die Musiker waren eigensinnig bis zur Verbohrtheit, Gebers war im Gegenzug kein ausgebildeter Tontechniker, überhaupt war die Technik teuer und anfällig und wenig flexibel - kurzum: die spezifische FMP-Ästhetik war auch ein Produkt der Not, Arte Povera. Der Sound der 70er und 80er Jahre ist ziemlich einmalig: sehr authentisch, aber auch merkwürdig undynamisch; oft vernuschelt und muffelig, dann wieder trocken und ungekünstelt. Aufnahmen, die in dem fensterlosen Keller von Gebers’ Arbeitsplatz entstanden sind, was solange gut ging, bis dieser Keller 1979 von Einbrechern leer geräumt wurde, haben sogar etwas klaustrophobisches, so verdichtet und atemlos klingen sie. Man höre nur Alexander von Schlippenbachs dort aufgenommene Solo-LP (1977). Was ist das? Noch Panik oder schon ihre Überwindung?

Aber was man soll man tun? Das Schlippenbach Quartett - Peter Kowald steigt in den 70er Jahren als Bassist ein, es beginnt vielleicht die fruchtbarste Phase dieser langlebigen Gruppe - neigt zu radikaler Klangverschmelzung, die in grellen, dissonanten Klangflächen mündet. Dieses Schrillen und Schreien - wer macht das? Evan Parker, der das Sopransax überbläst? Peter Kowald mit seinen rabiaten Bogentechniken? Schlippenbachs Inside-Spiel? Gestrichenes Metall von Paul Lovens? Alles gerät an seine Grenzen (und genau deshalb ist diese Musik so gut, Very good because very strong 8)!): die Kommunikationsfähigkeit der Musiker, die Bereitschaft des Publikums zuzuhören, die Raumakustik, Aufnahmetechnik. Und wie geht man eigentlich mit dem Poltergeist Han Bennink um, der in den 70er Jahren das Schlagzeug hinter sich lässt, um irgendwie alles zu machen (möglichst gleichzeitig): tibetanische Hörner malträtieren, Brötzmann beim Klarinetten-Blow-Out in den Schatten stellen, die ganze Bühne zum Schlagwerk erklären?

Gebers zieht daraus den Schluss, dass eine LP kein bloßes Dokument sein darf, dass man als dienender Produzent nicht der Illusion verfallen sollte, mit einem Tonträger ein Konzert reproduzieren zu können. Fast alle FMP-Produktionen bestehen aus geschnittenen, mitunter neu zusammengesetzten und anders gemischten Aufnahmen. »Das Band ist gespielte Musik«, meint Gebers, deshalb ist es der Bearbeitung zugänglich. »Jetzt ist alles aufgezeichnet und wir machen daraus das Beste für dieses Medium, also Platte oder CD.« 9)

»Wir«, das heißt die Musiker und Gebers, denn die Stücke auf LPs wurden von ihm stets in Absprache mit den Musikern zusammengestellt. Die auf dem Tonträger gebannte Musik ist nicht mehr dem vergangenen Ereignis verpflichtet, sondern den Künstlern als solche und natürlich den Käufern, die ja nicht identisch sind mit den Leuten, die bei der Aufnahme im Publikum saßen.

Der Sound ändert sich in den 90er Jahren, als FMP komplett auf digitale Produktionen umsattelt und wohl auch weil mit Holger Scheuermann ein exzellenter (Live-)Tontechniker ins Boot kommt. Bereits vorher war es Gebers im eigenen Studio möglich, Mehrspurtechnik aufzunehmen und so komplexe Produktionen wie die Burkhard Glaetzners mit Neuer Musik für Oboe und Vinko Globokars kollektive Soloimprovisationen zu bewerkstelligen.

Der Eigensinn setzt sich in der LP- und CD-Gestaltung fort. Wenn der Grafiker Brötzmann die Cover gestaltet (trifft in erster Linie auf seine eigenen Produktionen zu), dann sind die Maßgaben des Designs im hohen Maße erfüllt, Brötzmanns Handschrift, eine knallig inszenierte Klobigkeit, ist unverkennbar. Die meisten anderen Cover, häufig von Gebers selbst gestaltet, aber auch von Dieter Hahne oder von Manfred Kussatz, dem Schlagzeuger aus den frühen Gebers-Gruppen, setzen sich souverän über die Regeln der Gestaltung hinweg, auch die Fotos von Dagmar Gebers sind höchst eigenwillig, intime Schnappschüsse, die aber nie aufdringlich oder menschelnd wirken. Ihre Fotos haben in all ihrer Beiläufigkeit FMP ein Gesicht gegeben. Die Cover verzichten auf Kitsch und Marketing, stehen für die Offensichtlichkeit der zu vermittelnden Information - aber ihren Charme beziehen sie aus der unbekümmerten, unaffektierten, gänzlich a-ideologischen Do-it-yourself-Ästhetik.

Songlines
Man lasse in der Gemeinde der Free-Jazz-Afficionados das Stichwort FMP fallen und sich die mit dem Stichwort assoziierten Musiker nennen - es werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die selben zehn, fünfzehn Namen sein. Die Arbeit von Gebers zeichnet aber generell ein Grundvertrauen gegenüber der Szene aus: Es ging nie nur um die Clique, die von Anfang an dabei gewesen ist. Wer einmal bei FMP gespielt hat und sich im Laufe der Jahre nicht von der Freien Musik verabschiedet hat, der wird so schnell nicht aus den Augen gelassen. Alfred Harth demonstriert 1974 mit dem Trio EMT einen fragilen, vorsichtig tastenden Free Jazz, 1976, 1978 und 1979 werden Sessions von Alfred Harth/Heiner Goebbels für zwei SAJ-LPs aufgenommen - Free Jazz als Mittel, den alten Kampfliedern von Hanns Eisler neuen Mut einzuhauchen. 1982 dokumentiert abermals SAJ Harths Anstrengung, mit Laien ein großes Saxofonorchester - zwischen Zappa und Globe Unity - zu stemmen. 1987 spielt Harth mit Peter Brötzmann ein Duo, das diesem ganz neue Töne und Spielweisen abringt. 1991 ist Harth in dem Trio State of Volgograd vertreten (mit Lindsay Cooper und Phil Minton), das die Freie Musik postmodern-eklektizistisch zersplittert.

Das sind die Songlines, die musikalischen Traumpfade, der FMP: Viele Musiker sind gar nicht an das Label gebunden, jedenfalls nicht so, wie man das von Peter Brötzmann oder Alexander von Schlippenbach behaupten kann, aber FMP kommt auf sie zurück. Achim Knispel, Willi Kellers, Keith und Julie Tippett, Jean-Marc Montera, Erhard Hirt, Michel Pilz, Günter Christmann, Phil Minton, Misha Mengelberg, Steve Lacy, Louis Sclavis, Fodé Youla, Butch Morris, Werner Lüdi, Tristan Honsinger, Joëlle Léandre … diese Aufzählung ist willkürlich, sie lässt sich beliebig verlängern. Von dieser Offenheit - dass ein Musiker, der irgendwann mal ein gutes Projekt auf einem FMP-Konzert vorgestellt hat, auch Jahre später noch so viel Kredit besitzt, dass er oder sie auch ein neues Projekt präsentieren kann - hat das Label gezehrt. Nur sie hat die Vielschichtigkeit, die nie eine Beliebigkeit gewesen ist, garantiert. Die Offenheit gegenüber den verschiedenen Musikern und ihren unterschiedlichen Spielhaltungen entspricht die Offenheit der Musik selber: Man höre nur die Entwicklung von Günter Christmann, weg vom Powerplay, das er 1972 mit dem jungen Rüdiger Carl und Schlagzeuger Schönenberg angemessen zelebrierte (wobei gewisse Spuren von Skepsis gegenüber der krassen Abfahrt schon zu spüren sind), hin zur Mikromusik, in die er sich 1985 im Duo mit dem Bassisten Torsten Müller wühlt. Die Musik Christmanns steht exemplarisch dafür, dass einmal erreichte Standards prinzipiell nie als fix gelten, sondern ihrerseits Material darstellen, das in den unablässigen Improvisationen immer anders gepuzzelt wird.

Man hat einen bestimmten Sound im Kopf. Das ist normal, das Gehirn reduziert die Eindrücke. Aber je genauer man hinhört, desto fremder schallt es zurück. Es gibt keinen FMP-Sound. Es gibt den völlig eigenständigen Klangkosmos des King Übü Örchestrü, das wie keine andere Großgruppe gezeigt hat, dass breit angelegte Kollektivimprovisationen eben nicht drastisch-laut und derb-rotzig sein müssen, sondern wie eine summende, brummende, raschelnd-knacksende Wiese im Frühjahr klingen können. Es gibt eine bemerkenswerte Ansammlung von höchst eigenwilligen Gitarristen: Hans Reichel (der vorneweg!), Achim Knispel, Erhard Hirt, Andreas Willers, Joe Sachse, Stephan Wittwer, Jean-Marc Montera, Olaf Rupp (und vom Rande grüßen Fred Frith und Derek Bailey, Sonny Sharrock und Caspar Brötzmann). Es gibt eine bemerkenswerte Zusammenarbeit mit Klassikern des deutschen Jazz, also mit jenen Musiker, die Jahre vor FMP schon Stars in der Szene waren: mit Albert Mangelsdorff und Gunter Hampel, Wolfgang Dauner und Gerd Dudek. Willem Breuker durfte sein Kollektief vorstellen, als er sich schon längst von der Freien Musik verabschiedet hatte. Radikale Klangforschung, die wohl erst in den letzten Jahren »verstanden« wurde (erst dann wurden diese Alben kanonisiert und zu Meilensteinen geadelt), war stets willkommen: der ebenso spröde wie geniale Elektroakustiker Hugh Davies und der stets verblüffende Instrumentenerfinder Michel Waisvisz legten ihre frühen Soloalben auf SAJ vor; Andy Guhl und Norbert Möslang bewegten sich weg von der Improvisation mit konventionellen Instrumenten hin zu ihren harschen, grellen Klangfarbenmelodien, die sie ausschließlich mit »geknackter Alltagselektronik«, mit umfunktioniertem Konsumelektroschrott, komponieren; Radu Malfatti und Stephan Wittwer verkehrten die Parameter ihrer Instrumente (Posaune/Gitarre) ins gänzlich Unerwartete und schufen eine bis heute einzigartige Geräuschmusik; Vinko Globokar konstruierte als fünffach auftretender Solist im Studio (via Overdubs) eine völlig bizarre Kollektivimprovisation.

Und daneben, dazwischen, davor und dahinter: erhabener, geradliniger, strahlender Free Jazz. Von Michel Pilz, Itaru Oki und Ralf Hübner; von Charles Gayle, William Parker und Rashied Ali; von Peter Brötzmann, Harry Miller und Louis Moholo; dem Ernst-Ludwig Petrowsky Quartett; dem Schlippenbach Trio; dem Brötzmann-Schoof Quartett, dem Trio von Irène Schweizer, Louis Moholo und Rüdiger Carl. Aber auch diese Linie ist nicht so straight, wie man denken mag: Es gibt eine FMP-CD, die »Songlines« heißt. Ein Schlüsselwerk - gerade weil man die Stücke objektiv kaum als gelungen bezeichnen kann: Brötzmann ringt mit dem Schlagzeuger Rashied Ali und dem Bassisten Fred Hopkins um die gemeinsame Linie. Der Wille zur Verständigung ist da - und man verfehlt sich doch. Aber dort, wo die Musiker auseinanderstreben, wo sie aufgegeben haben, dem anderen zu folgen, ergeben ihre einzelnen Songlines ein flirrendes Geflecht, ein Miteinander, das keine Einheit voraussetzt, ein Verständnis, das lange Momente von Unverständnissen beinhaltet.

Es gibt keinen FMP-Sound. Aber es gibt eine Plattform, auf der wir die unterschiedlichsten Sounds hören. Eine Plattform, die durch die Präsentation unterschiedlichster, allein der Freiheit der Musik verpflichteten Spielhaltungen sich erst konstituiert hat.

Lost Generation? Die zweite Welle der Free Music
»›In a State of Undress‹ könnte ein Klassiker des deutschen Free Jazz sein, wäre die Platte 20 Jahre früher gemacht worden. Inzwischen jedoch ist der Stil mit seinen Vätern alt geworden, und Söhne hat er nie gehabt«, so urteilt 1990 der Kritiker Hans-Jürgen Schaal über eine der letzten Vinyl-Produktionen des Labels. 10) Es handelt sich um die Aufnahme eines geradezu klassisch besetzten Quartetts: Peter Brötzmann am Saxofon, Manfred Schoof an der Trompete, der Bassist Jay Oliver und der Schlagzeuger Willi Kellers. Das Urteil Schaals ist vernichtend, denn was gibt es für eine Aufnahme von Musikern, die für sich in Anspruch nehmen, Neuland zu vermessen, schlimmeres als die Behauptung, man sei veraltet. Mehr noch: Man habe noch nicht mal Nachfolger gefunden! Mal abgesehen davon, dass man als improvisierender Musiker kaum in den Kategorien von Vorgänger und Nachfolger denkt, weil es in dieser Musik nicht um Erbhöfe und Verwandtschaftsgenealogien geht, bleibt die Frage: Hat es wirkliche keine zweite Generation von Free Jazzern im Rahmen der FMP gegeben? Die Frage erledigt sich sofort: Es hat sie gegeben. Aber was ist aus ihr geworden?
Grenzen wir ein: Zur zweiten Generation zählen die Musiker, die zwischen 1950 und 1960 geboren sind, die also in den 70er Jahren zu ihrer ersten musikalischen Reife gelangen und für die die ersten Gruppen des westdeutschen Free Jazz - das Schoof Quintett, die erste Formation des Globe Unity Orchestras, Hampels »Heartplants«-Gruppe, das Brötzmann Trio und sein »Machine Gun«-Oktett - bereits ferne Geschichte sind. 11)

Die Musikerliste der zweiten Generation ist beeindruckend: Georg Gräwe und sein Quintett, die Pianisten Martin Theurer, Bernhard Arndt und Elmar Kräling, die Gitarristen Achim Knispel, Stephan Wittwer, Erhard Hirt und Andreas Willers, die Klangerfinder Andy Guhl und Norbert Möslang, die Friedemann Graef Group, das sehr eigenwillige Trio Ohpsst, der Schlagzeuger Willi Kellers (Hinzukommen Musiker aus der DDR: Johannes Bauer, Helmut Joe Sachse, Dietmar Diesner, Uwe Kropinski…). Der Unterschied dieser Generation zur ersten ist im Grunde der, dass sie eigentlich gar keine Generation bildet! Denn sieht man von den äußerlichen Daten - Geburtsjahr, Zeitpunkt des Debüts auf FMP - ab, fällt auf, dass es kaum Gemeinsamkeiten gibt. Das Gräwe Quintett orientiert sich ganz klar am klassischen, zehn Jahre älteren Schoof-Quintett. Als die Musiker aus dem Ruhrgebiet 1976 ihr Debüt geben, sind sie gerade mal um die Zwanzig, musikalisch gehören sie aber zur ersten Generation. Auf der anderen Seite weist der Radikalismus von Wittwer, Möslang/Guhl, Theurer und Hirt in eine ganz andere Richtung - weg von allen Jazz-Bezügen, weg von allen bekannten Mustern der Improvisation! Diese Musiker verweisen bereits auf eine dritte und vierte Generation von Improvisatoren, die elektroakustisch arbeiten und gar nicht mehr an der Generierung rhythmischer Energie interessiert sind. Die Gruppe Ohpsst fällt völlig aus dem Raster, weil sie mit ihrer kammermusikalischen Mischung aus durchkomponierten Strukturen und freien Improvisationen, die bereits wie Mitbringsel aus einer fremden Welt wirken, eine eigenständige Musik vorlegten, die man spontan den spätpostmodernen 90er Jahren (wenn überhaupt) zuordnen würde. Wolfgang Fuchs baut in den 80er und 90er Jahren in Berlin-Kreuzberg beharrlich seine eigene Szene auf, was in einem Improvisationsorchester mündet, in dem einige der wichtigsten jungen Improvisatoren der letzten 15 Jahre gearbeitet haben (Axel Dörner, Olaf Rupp, Andrea Neumann, Gregor Hotz).

Die zweite Generation entpuppt sich also als Konglomerat von Individualisten, deren Wege dementsprechend idiosynkratisch verlaufen: So hat die spätere Musik Georg Gräwes nur noch wenig mit seiner frühen Orientierung am Schoof Quintett zu tun, und dass Stephan Wittwer zu einem begnadeten Hardcore-Free-Metal-Gitarristen avancierte, der sich aber heute musikalisch fast ausschließlich mit der Software Super Collider auseinandersetzt - daran hat keiner denken können.

Damit entsprechen diese Musiker dem anderen Strang der Improvisierte Musik: Der erste besteht darin, dass es sich in erster Linie um KOLLEKTIV improvisierte Musik handelt; der zweite darin, dass diese kollektive Musik von starken Einzelpersönlichkeiten gespielt wird. (Ein kollektives Dokument gibt es gleichwohl: Die erste LP des Berlin Jazz Workshop Orchestras, das 1978 unter der zurückhaltenden Leitung John Tchicais die wichtigsten Gruppen der Jüngeren - die von Gräwe und Graef, Ohpsst etc. - vereint.) Nicht übersehen werden kann, dass viele Musiker sich als Künstler nicht durchgesetzt haben, sich nach einigen Jahren ins Lokale zurückzogen, das Improvisieren aufgaben, ganz verschwanden. Was auch damit zu tun hat, dass die Plätze für die Improvisation rar sind. Und meistens von den Musikern der ersten Generation, die natürlich auch um ihr Profil und ihr Auskommen Sorgen tragen, besetzt gehalten werden. 12) Die Frustrationstoleranz muss ausgeprägt sein, Improvisationsmusik, meinte einst Derek Bailey, öffnet einem keine Türen, except the exit doors.

Von den USA lernen, heißt …
Das Verhältnis von europäischem und amerikanischem Free Jazz kann man in einem Satz ausdrücken: In dem Moment, wo die Europäer angefangen haben, ihren Free Jazz zu spielen, tritt der europäische Jazz aus der epigonalen Abhängigkeit zu amerikanischen Trends heraus, und die eigene Jazzgeschichte beginnt. Die Frage aber ist: Wie groß ist der Anteil des amerikanischen Free Jazz an der europäischen Tradition?

Die europäische Freie Musik speist sich aus Quellen, die nichts mit Jazz zu tun haben: aus dem zerfallenden Serialismus der Neuen Musik, ein Prozess der bei Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen, Vinko Globokar, Franco Evangelisti oder Cornelius Cardew ein großes Interesse an Formen der Improvisation hervorrief: (gelenkte) improvisatorische Prozesse sollten das klangliche Material in gelungene Musik transformieren helfen, woran der strenge Serialismus der 50er Jahre gescheitert war. Improvisatoren wie Alexander von Schlippenbach, Manfred Schoof, Willem Breuker, Misha Mengelberg oder John Stevens verfolgten aufmerksam die Emanzipation der Neuen Musik von der erstarrten Zwölftonmusik.

Die europäische Freie Musik speist sich aber auch aus offenen, prozessualen, dekonstruktiven Happenings der Bildenden Kunst. Man denke an Fluxus, an den jungen Peter Brötzmann, der an der Wuppertaler Werkkunstschule Assistent von Nam June Paik ist und dem eine Karriere als Maler und Aktionskünstler offen steht. Auch Mengelberg und Han Bennink sind in Sachen Fluxus unterwegs, die ersten Veröffentlichungen ihres Labels ICP sind nicht nur Tonträger, sondern Kunstobjekte - kleine, schnoddrige Gesamtkunstwerke mit individuell gestalteten Covers.

Aber Post-Serialismus und Fluxus sind nicht die Hauptbestandteile der europäischen Improvisierten Musik, sie sind durchaus akzidentiell, ihre Aufgabe besteht darin, den Grundstoff zu filtern, so dass sich tatsächlich eine neue Musik kristallisiert. Dieser Grundstoff aber ist amerikanischer Free Jazz. Das sorgt für Diskussionen (die im Prinzip bis heute sich jeder neuen Generation von Improvisatoren stellen): Folgt daraus die innige Verbindung der europäischen und amerikanischen Szenen? Oder im Gegenteil: Gilt es, die eigene Haltung zur Improvisation so weit voranzutreiben, so autonom zu behaupten, dass die Free-Jazz-Wurzeln vollends gekappt sind? Aus den Kreisen von FMP-Musikern vernimmt man Anfang der 70er Jahre abwertende Statements: Man gehe andere Wege, die amerikanischen Kollegen könnten einem dabei kaum helfen, man müsse eine eigene Sprache finden. Dagegen steht, dass von Anfang an amerikanische Musiker auf den Festivals der FMP auftraten, nota bene: auf dem ersten Total Music Meeting schauten Pharoah Sanders und Sonny Sharrock vorbei. Ab 1975 finden sich Produktionen amerikanischer Musiker auf SAJ: Aufnahmen von Steve Lacy, Noah Howard und Michael Smith, um die ersten zu nennen. Anthony Braxton steigt beim Globe Unity Orchestra ein. Später folgen die Brückenschläge: Peter Kowald und Günter Sommer zelebrieren mit Wadada Leo Smith die Vereinigung von Ost und West, Peter Brötzmann trifft auf Andrew Cyrille, verbrüdert sich mit Frank Wright und wird ab Mitte der 80er Jahre konsequent die Zusammenarbeit mit amerikanischen Kollegen - Ronald Shannon Jackson, Sonny Sharrock, Bill Laswell, Fred Hopkins, William Parker, Hamid Drake, Ken Vandermark, Walter Perkins, Nasheet Waits, Joe McPhee - suchen. Es ist abermals Peter Kowald, der in den 80er Jahren einen weiteren Amerikaner in den FMP-Zirkus einführt: Charles Gayle. Alexander von Schlippenbach nimmt eine Session mit Sunny Murray, als Schlagzeuger von Cecil Taylor und Albert Ayler eine der Zentralfiguren des Free Jazz, auf. Höhepunkt dieser Re-Amerikanisierung ist vielleicht das Total Music Meeting 1991: Fünf Amerikaner (Charles Gayle, Fred Hopkins, William Parker, Rashied Ali, Andrew Cyrille), vier Europäer (Brötzmann, Kowald, Evan Parker und Tony Oxley) - je drei Saxofonisten, Bassisten und Schlagzeuger - treffen auf Entscheidung der Musiker »in allen nur erdenklichen Kombinationen«, wie der Programmzettel mitteilt, aufeinander.

Trotz dieses Ereignisses - die Spannungen bestehen weiter: Viele der amerikanischen Kollegen verweigern sich der vorbehaltlos freien Improvisation, wünschen sich Vorgaben und klare Absprachen. Umgekehrt bezweifeln Kritiker, ob die Europäer überhaupt in der Lage sind, dem jazzgesättigten Klangbewusstsein etwas Gleichwertiges entgegen zu setzen. Steve Lake verteilt in den Linernotes von »Songlines« überraschend deutlich die Rollen - hier Brötzmann und sein robust-grobschlächtiges Spiel, dort der Bassist Fred Hopkins als sensibler Vermittler. Seine Kritik ist exemplarisch: »Hopkins (…) versucht, Peters unergründlichem Balladenschema zu folgen - angesichts seines nahezu perfekten Tonbewusstseins eine großzügige Geste. Wie auch immer, ein Teil der Hörer wird sicher gehörige Erleichterung verspüren, wenn Brötzmann zur Halbzeit die Intensität mit den für ihn typischen verzerrten Phrasen und Klangfetzen um etliche Grade steigen lässt , und Intonation, das alte Schreckgespenst, kein Thema mehr ist. Die Möglichkeit, ›temperierten‹ oder ›untemperierten‹ Jazz zu spielen, gibt es zwar seit Ornettes ersten Auftritten, aber man hätte doch gern das Gefühl, dass der Künstler sich frei entscheiden kann!« 13)

Vielleicht besteht das musikalische Missverhältnis wesentlich darin, dass amerikanische Free Jazzer ihre Musik als Weiterführung einer großen Linie verstehen, »Great Black Music« haben das die Chicagoer Bilderstürmer um Lester Bowie genannt - noch der kühnste Afrofuturismus ist der Tradition verpflichtet (für Archie Shepp gab es in den 60er Jahren zwischen Free Jazz und Blues den kleinsten Übergang). Der europäische Free Jazz, der sehr rasch den »Jazz« aus seinem Namen zu streichen gewillt ist, definiert sich über den Bruch mit der Tradition. So einfach, so schematisch. Die zahlreichen amerikanisch-europäischen Kooperationen, die FMP angeregt und schließlich dokumentiert hat, zeigen von spontanem Verständnis (Brötzmann im Duo mit Andrew Cyrille) bis respektvoller Distanz (Schlippenbach und Sam Rivers) Varianten, das Missverhältnis produktiv zu machen.

Cecil Taylor in Berlin
Jede Überlegung über das Verhältnis zwischen europäischen und amerikanischen Improvisatoren im Rahmen von FMP bleibt arm, wenn es nicht die Berlin-Aufenthalte Cecil Taylors einbezieht. Der Pianist kommt bereits 1986 nach Berlin, spielt auf dem Workshop Freie Musik und muss seinen bereits schwer erkrankten Partner Jimmy Lyons ersetzen. Der Altsaxofonist hat Taylor über 25 Jahre begleitet - nicht dienend, sondern als derjenige, der Taylors endlose Reise möglich gemacht hat. Die schroffen Kaskaden, das schwindelige Spiel aus Wirbeln, Verzahnungen, plötzlichen Wendungen, brutalen Clustern brechen sich in Lyons unverschämt leichtem, äußerst biegsamem, bei aller Geschwindigkeit und Reaktionsschnelligkeit ungeheuer ruhigem Spiel - und finden also ihren idealen Konterpart. Man muss das alles erwähnen - denn Taylors erster Auftritt bei der FMP wird von Gebers als wenig gelungen eingeschätzt. Die Panzerknacker Frank Wright und Peter Brötzmann treten an die Stelle des feinsinnigen Tresorbohrers Lyons, Taylor räumt ihnen wenig Platz ein, insgesamt scheinen die Musiker eher Staffage zu sein, Taylor dagegen umso exzentrischer. Die Abwesenheit Lyons’ ist hörbar. 14)

Zwei Jahre später ist Taylor einen ganzen Monat in Berlin - das Sommermärchen des Free Jazz, das vom 17. Juni bis 17. Juli dauert. Nele Hertling, Leiterin der »Werkstatt Berlin«, hatte Gebers eingeladen, sich doch eine Musikreihe für das damalige Berliner Kulturhauptstadt-Programm einfallen zu lassen. Gebers will Taylor - und zwar in der direkten Konfrontation mit der europäischen Szene. Fünf Duos mit europäischen bzw. in Europa arbeitenden Schlagzeugern werden angesetzt, ein kammermusikalisches Trio mit Evan Parker und Tristan Honsinger wird ins Auge gefasst, Taylor soll Workshops geben, Solokonzerte spielen, mit einer einmaligen Big Band - die die ganze Szene umfasst: von Gunter Hampel bis Johannes Bauer, von Peter van Bergen bis Enrico Rava - großflächige Kompositionen erarbeiten. Und als verschrobener Höhepunkt: ein Duett mit Derek Bailey, von Taylor explizit gewünscht, niemand sonst hatte damit gerechnet. Der 88er-Sommer gilt heute als das Ereignis in der Freien Musik, vergleichbar mit der 1964 in New York stattfindenden »October Revolution in Jazz«, als die jungen Musiker des New Things die Szene stürmten und Free Jazz für einen winzigen Moment die Hegemonie über die amerikanische Jazz-Szene errang.

Egal, wie eng die Bindungen zwischen Europäern und Amerikaner vorher waren - die Taylor-Festspiele definieren das Verhältnis neu und grundlegend. Seitdem gilt die Freie Musik unwiderruflich als global, nicht länger aufgeteilt in »USA« und »Europa«. Seitdem ist FMP in der amerikanischen Szene ein Begriff.

Das Besondere dieses Monats liegt darin, dass wirklich etwas passiert ist. Wir hören keine »überraschenden Meetings«, keine »mitreißenden Sessions« und auch keine »inspirierten Improvisationen«. Stattdessen: Fortschritt. Die Musiker spielen miteinander, und jeder weiß - die Beteiligten auf der Bühne, die Zuhörer in den Sälen, die CD-Käufer in ihren Sesseln: Es ist nicht mehr so, wie es vorher war, es wird nie wieder so sein, wie es einmal gewesen ist. Wir hören: den Fortschritt in der Musik.

Han Bennink und Paul Lovens hat man vorher nicht so gereift und ausgeglichen und konzentriert gehört; Günter Sommer spielt straff, sehr ökonomisch, wacher als wach, Bailey verweigert sich nicht (wie das damals viele erwartet hatten), stellt sich nicht schroff gegen seinen Partner, sondern erarbeitet sich mit Taylor Stück für Stück gemeinsames Terrain. Oxley agiert, als wäre er bereits seit zwanzig Jahren Taylors Schlagzeuger gewesen, und da ist noch Louis Moholo, der exilierte Genosse aus Südafrika, der endlich die Fäden verweben kann: südafrikanische Jive- und Kwela-Musik, New Yorker Free-Jazz-Power, Londoner Hardcore-Improv.

Und Taylor? Lässt den Jazz hinter sich, gibt sich offener, konstruktivistischer, zeigt sich expliziter an Strukturen interessiert, an feinnervigen Interaktionen. Was er stets postuliert, dass seine Musik etwas Tänzerisches hat, selbst ein Tanz ist, offenbart sich erst jetzt. Taylor spielt in diesem Sommer Soli, hinter denen er nicht mehr zurückfallen will: Energie resultiert nicht mehr nur überlegener Virtuosität, sondern wird in ihren Einzelelementen erfahrbar, Energie als Resultat der Verschlingung unendlich kleiner rhythmischer Bewegungen und melodischer Einfälle.

Gebers setzt sich über alle ökonomischen Bedenken hinweg und stemmt binnen Jahresfrist eine 11-CD-Box 15) (heute ein mystifiziertes Sammelobjekt, obwohl bis auf eine CD alle in Einzeleditionen vorliegen).

Noch mal: Wir hören den Fortschritt in der Musik. Daran kein Zweifel. Aber hören wir auch gute Musik? Tatsächlich kommen die wenigsten Aufnahmen über die Entdeckung des Neuen hinaus. Es fehlt an Vertiefung, der Rausch der Improvisation ist gehemmt. Das Neue hat sich (noch) nicht ins Verbindliche erweitert. Das wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen, Taylor hat mit Berlin noch eine Rechnung offen.

Und er kommt zurück: 1989 dominiert er das Total Music Meeting, 1990 - als DAAD-Stipendiat - richtet ihm die FMP das »TaylorTotalTaylor«-Festival aus. 1993 ist er auf dem Workshop Freie Musik zu hören. 1996 gehört ihm eine Hälfte des Total Music Meeting (die andere gehört Steve Lacy, und alle im Saal haben heimlich gehofft, dass die alten Weggefährten, die 1958 an die freie Improvisation sich heranpirschten, noch einmal zusammen kommen werden. Die Enttäuschung war natürlich absehbar.) Vor allem 1989, 1990 und 1993 erntet Taylor die Früchte jenes Sommers. Sein Solospiel klingt noch verfeinerter, noch klarer, noch unerwartbarer. Aus dem Kreis der Schlagzeuger hat er Tony Oxley für sein Feel Trio auserkoren (am Bass ist William Parker, unüberwindlich wie ein Türsteher eines Hotspots in Berlin-Mitte), Oxley ist der ewig Rotierende - er löst sich völlig von jedem Time-Bezug, swingt, wenn man so will, in abstrakten Rhythmen, orientiert sich nicht an Energie, sondern an Klangfarben. Und wie er swingt! 1990 stößt der in Berlin lebende finnische Sopransaxofonist Harri Sjöström zum engeren Taylor-Kreis. Sein leichtes, unkompliziertes Spiel, die hellen, schnalzenden Sounds lassen ihn an die Stelle Jimmy Lyons rücken, auch wenn er die Beweglichkeit Lyons’ nie erreichen wird. Für ein paar Jahre wird Sjöström zum zentralen europäischen Partner - und Koordinator - Taylors.

Natürlich gibt es in Taylors Musik, die viele zunächst als hermetisch und verstiegen erleben, Höhepunkte und Phasen der Stagnation. Das frühe Trio mit Lyons und Sunny Murray (1962) ist bahnbrechend, seine Unit (1969-1974) mit Lyons und Andrew Cyrille hardboiled. Und dann gibt es seine FMP-Jahre, 1988-1996. 16)

Vom Ende der Geschichte: FMP und die DDR-Szene
Die Geschichte der Freien Musik ist offen, weil die Musik offen ist. Für eine Szene trifft dies nicht zu: für die Improvisatoren aus der DDR. Free Jazz aus der DDR ist mit dem Ende der DDR zum Abschluss gekommen. Das ist keine banale Aussage, denn andererseits haben die meisten Gruppen aus der DDR den Zusammenbruch überstanden und arbeiten bis heute weiter, und ganz sicher haben die Musiker nicht ihre Vergangenheit weggeschmissen. Aber die Musik ist eben eine andere, sie ist nicht mehr den Produktionsbedingungen einer preußisch-sozialistischen Erziehungsdiktatur unterworfen (muss sich nicht mehr daran abarbeiten).

1972 entstanden die ersten Kontakte zwischen der FMP, Ostberliner Musikern und dem Rundfunk der DDR. Entgegen allen Befürchtungen gestaltete sich die Zusammenarbeit unbürokratisch, ja geradezu flexibel den Bedürfnissen von Label und Musikern angepasst. Höhepunkt dieser ungewöhnlichen Kooperation war das Snapshot-Festival, »Jazz aus der DDR«, das die FMP 1979 in der Akademie der Künste organisierte und auf einer Doppel-LP bündelte.

Noch vor der volkseigenen Plattenfirma Amiga dokumentierte FMP den Free Jazz der DDR - man ließ Gebers und die Musiker gewähren, sei es, weil die Kulturfunktionäre hier ein unverfängliches Feld entdeckt hatten, auf dem sie von Staats wegen Liberalität und Weltläufigkeit demonstrieren konnten (nachdem bis in 60er Jahre hinein Jazz in der DDR regelrecht drangsaliert wurde), sei es, weil ihnen die subversive Qualität der Musik nicht einleuchtete. Free Jazz war in der DDR-Szene keine Randphänomen, sondern - weltweit einmalig - dominierte. Völlig zu Recht. Denn die Musik von Ulrich Gumpert, Günter Baby Sommer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Conrad Bauer, Hans Rempel, Manfred Schulze, Klaus Koch und Heinz Becker erwies sich als ungeheuer stark darin, jazzferne Elemente, Volkslieder, dörfliche Tanzmusik, Hanns-Eisler-Adaptionen, 12-Ton-Musik, Kirchenmusik, in die freie Improvisation zu integrieren. So entstand ein eigener Drive, ein mitteleuropäischer Groove, der im Westen unmöglich hätte erfunden werden können. Die Improvisationen wurden dadurch noch befeuert: so druckvoll und kompakt wie das Trio um Sommer, Gumpert und Manfred Hering spielte 1973 keine westdeutsche Gruppe (vermutlich überhaupt keine Gruppe in Europa). Das Zentralquartett, Petrowsky, Conrad Bauer, Gumpert und Günter Sommer, verwandelten Volksmusikkitsch in anmutige, hymnenhafte Themen, elastische Sprungbretter für die weit ausholenden, wunderbar eleganten Improvisationen von Petrowsky und Bauer. Manfred Schulze knackte die Strenge der Zwölftonmusik Schönbergs und gewann aus ihr Module für Improvisationsprozesse - eine Anstrengung, die einmalig in der Geschichte des Jazz und der Freien Musik ist.

Auch die zweite Generation der DDR-Improvisatoren, Johannes Bauer, Helmut Joe Sache, Uwe Kropinski, Dietmar Diesner, fand zu FMP. Spätestens Anfang der 80er Jahre war klar, dass die Szene nicht aus einer kleinen Clique Ostberliner Musiker besteht, sondern ein durchaus vielschichtiges Geflecht mit der produktiven Gabe zur Selbsterneuerung darstellt. Auf zwei Dutzend FMP-LPs sind Musiker aus der DDR zu hören, die meisten dieser Veröffentlichungen präsentieren originäre Formationen, ein paar dokumentieren die ersten grenzübergreifenden Kooperationen. Vor allem ist das Trio von Peter Kowald, Wadada Leo Smith und Günter Sommer zu hören, das die Musik einer globalen Utopie spielte, in der der afroamerikanische Chicagoer Trompeter Smith und der sächsische Schlagzeuger Sommer ihre Fantasie kaum zügeln können und doch immer wieder zusammengehalten werden von den unbeirrbaren Basslinien des Wuppertalers Kowald.

Berlin - Hauptstadt der Improvisierten Musik.
Weder Westberlin noch Köln, erst recht nicht Wuppertal, also die Ursprungsorte der FMP, hätte man in den 60er, 70er und 80er Jahren als Weltstädte bezeichnen können. Es hat etwas putziges bzw. selbstironisches, wenn Wuppertal als Hauptstadt des europäischen Free Jazz apostrophiert wurde, nur weil dort ein halbes Dutzend Pioniere dieser Musik wohnten und ab und zu Konzerte und Workshops veranstalteten. So viel besser war die Situation in Berlin aber auch nicht, noch 1992 (!) beklagt Gebers das Desinteresse der Berliner Medien und die Abwesenheit des Rundfunks - was in einem krassen Missverhältnis zur internationalen Rezeption der FMP-Aktivitäten stehe. 17)

Zu diesem Zeitpunkt ist der Umzug der Regierung in die neue Hauptstadt längst beschlossene Sache, hat sich herumgesprochen, dass es - gerade im zentralen Ostteil der von ihrer eigenen Wiedervereinigung überrumpelten Stadt - billigen Wohnraum en masse gibt, dass viele städtischen Räume und Strukturen noch gar nicht definiert sind, also Platz bieten für künstlerischen Wildwuchs. 1995 gibt es in Berlin bereits eine neueste Generation von Improvisatoren, die in nicht-konzessionierten Clubs spielen und die Freie Musik in die besetzten Häuser am Prenzlauer Berg bringen. Vor allem der Anorak Club in der Dunckerstraße ist der Nukleus dieser Szene. Die Musik orientiert sich kaum noch am Free Jazz (was auch zu ostentativen Abgrenzungsgesten zur klassischen Ostberliner Free-Jazz-Szene führt, die zu diesem Zeitpunkt sich im Jazzkeller Treptow sammelt), viel eher aber am dekonstruktiven Rock aus New York oder Chicago, auch der Einsatz von Elektronik die Adaption von Stilmitteln postserieller Neuer Musik spielen eine große Rolle. Ein regelrechter Boom bricht aus, der sich vor allem im weiteren Zuzug von jungen Musikern manifestiert und bis heute ungebrochen ist.

Etwa sieben Kilometer südlich der Dunckerstraße - mitten in Kreuzberg - hat der Klarinettist Wolfgang Fuchs, der zwei der wichtigsten neuen Improvisationsgruppen der 80er Jahre mitgegründet hat - Xpact und, daraus hervorgehend, das King Übü Örchestrü - einen permanenten Workshop initiiert, in dem einige Musiker der Anorak-Szene mittun. Fuchs bringt Teile dieser Gruppe in die Skyscraper-Big-Band ein, die 1995 das Total Music Meeting bestreitet. Skyscraper ist eine fragile Angelegenheit - denn die äußerst heterogene Gruppe, die auch dezidiert nicht-improvisierende Musiker umfasst, muss sich auf die Dirigate Butch Morris’ einlassen. Morris, ursprünglich ein Aktivist der New Yorker Loft-Szene der 70er Jahre, hat in den 90ern das Trompetenspiel aufgegeben und ein System des Dirigierens entwickelt, das für ihn (!) die bestmögliche Mischung aus vorgegebener Struktur und spontaner Improvisation ermöglicht. Er setzt als Dirigent ohne Notentext ein selbst geschaffenes Repertoire strukturierender Vorgaben ein, die die Musiker nach den Maßgaben ihrer kollektiven improvisatorischen Phantasie umsetzen. In einem Feedback-Prozess nimmt Morris diese musikalischen Impulse auf und reagiert auf sie mit neuen Dirigierimpulsen. In den glückenden Momenten transzendieren Morris und »seine« Musiker die Improvisation in ein neues Bezugssystem kollektiver Musik - häufig aber auch bremsen Morris’ Einsätze spannende, autonome Prozesse der Musiker aus.

Dass auf Skyscraper die glückenden Momente überwiegen, liegt nicht zuletzt daran, dass es einen harten Kern an Musikern gibt, die zwischen Naunynstraße und Dunckerstraße bereits in zahlreichen Spielkonstellation eine eigene Sprache entwickelt haben, Morris also starke eigene Ideen entgegensetzen: Stephan Mathieu (Perkussion), Nicholas Bussmann (Cello), Wolfgang Fuchs (Bassklarinette), Gregor Hotz (Saxophone), Olaf Rupp (Gitarre) Davide de Bernardi (Bass), Axel Dörner (Trompete).

Gleichwohl bedeutet Skyscraper nicht der Einlass der jungen Generation in die FMP-Familie: Das ’96er Total Music Meeting ist ganz Steve Lacy und Cecil Taylor gewidmet, auch das nächste TMM ist fast ausschließlich auf die erste Generation der Improvisatoren - Kowald, Brötzmann, Evan Parker, Charles Gayle, Schlippenbach und Sam Rivers etc. pp. - ausgerichtet. Das ist wertkonservativ, abseits des Festivals sorgt dies in der Szene für einigen Unmut. Den Gebers damit quittiert, dass den jungen Musikern die Bühne dann zur Verfügung stünde, wenn sie etwas musikalisch Eigenständiges und Ausgereiftes vorweisen könnten. Kein wirklich freundliches Urteil (war denn FMP nicht immer auch eine Plattform, um Unausgereiftes vorzustellen und dadurch zur Reife zu bringen?). In gewisser Hinsicht hat Gebers aber recht behalten: Die 90er-Jahre-Szene hat sich in ihrer ursprünglichen Form nicht als konstant oder besser: konsistent erwiesen, mit der sanierungsbedingten Schließung des Anorak verschwand auch die dort gespielte Musik; das Ende 2002 eine Straße weiter eröffnete Ausland featured bereits die nächste, definitiv nicht mehr auf FMP angewiesene Generation.

Wer weitergemacht hat, hat seine Chance bekommen: Olaf Rupp hat zwei Gitarrenalben vorgelegt, die selbst in dem so reichen und unübersichtlichen FMP-Katalog herausstechen. Gregor Hotz (auch im Duo mit Nicholas Bussmann) legte Improvisationen vor, die die von Steve Lacy und Evan Parker etablierten Parameter für solistisches und kammermusikalisches Saxofonimprovisieren elegant unterlaufen. Auch die quirligen, überraschend free-jazzigen Geräuschimprovisationen des Quartetts Ilinx haben ihren Platz bei der FMP gefunden.

Trotzdem haben sich die Wege geteilt: Bis Mitte der 90er Jahre repräsentierte FMP die Haupt- und auch die wichtigsten Nebenströme der Improvisierten Musik - nicht ausschließlich, aber doch umfassender als jedes andere Label. Der Kontakt zur dritten und vierten Generation blieb punktuell. Ironie der Geschichte: In dem Moment, wo Berlin, zumindest musikalisch gesehen, das Provinzielle endgültig überwindet, rückt FMP, dieses dezidiert antiprovinzielle, kosmopolitische Unternehmen, in den Hintergrund. Ab 1996/97 war abzusehen, dass sich die Geschichte der FMP ihrem Ende entgegenneigt.

Verlorene Jahre. Nach 2000
Es drohte ein Ende mit Schrecken zu werden. Keine Sorge, die Geschichte geht gut aus, sonst wäre dieser Text nicht entstanden, sonst wären auch eine Reihe erstklassiger Produktionen der letzten Jahre nicht veröffentlicht worden (etwa Olaf Rupps »Whiteout«, Ilinx). Aber die Nuller Jahre sind geprägt von Nickeligkeiten, übler Nachrede, billigend in Kauf genommenen Missverständnissen.

Tatsächlich plante Gebers, ausgelaugt von 30jähriger beruflicher Doppelbelastung, frustriert von Pfennigfuchsereien der Berliner Kulturverwaltung, seit 1997 den Ausstieg. Es sollte reibungslos verlaufen und musste deshalb gut vorbereitet werden: Gebers kündigte gegenüber der städtischen Administration seinen perspektivischen Ausstieg zum Jahreswechsel 1999/2000 an, seine Firma sollte aufgelöst werden, damit entfiel die institutionelle Förderung und es verschwand ein weiterer Negativposten aus der Kulturplanung. Im Gegenzug erhielt Gebers die Garantie, bis zu seinem Ausstieg die volle Förderung zu erhalten, für ein paar weitere Jahre war Planungssicherheit gegeben. Das Auflösung der Firma bedeutete aber nicht das Ende der CD-Produktionen (wohl aber das Ende des Total Music Meeting). Der FMP-Verlag - FMP-Publishing -, der viele Werke der Musiker seit 1985 vertritt und nicht identisch mit dem Label ist, blieb bestehen und übernahm das Label. Für diesen Verlag, der übrigens von 1992 bis zum 1.1. 2007 nicht im Besitz von Jost Gebers gewesen ist, sondern von Anna Maria Ostendorf geleitet wurde, arbeitete er weiterhin als Produzent. So war die Veröffentlichung von CDs auch über 1999 hinaus garantiert. Ebenfalls 1999 erteilte FMP-Publishing Helma Schleif, die über ihren Freund Wolfgang Fuchs dem Label zumindest indirekt verbunden war, in einem Lizenzvertrag »das uneingeschränkte und exklusive Recht, die Tonträger des Labels FMP/Free Music Production/An Edition of Improvised Music herstellen zu lassen und weltweit zu vertreiben«. Der gesamte Warenbestand ging an Frau Schleif. Damit war Gebers der mühevollen Mehrfachbelastung ledig.

Er informierte über die Vorgänge sein Umfeld, auch was das Ende des TMM anging, und empfahl seinen engsten Mitstreitern, Schlippenbach, Kowald, Brötzmann, auch Rüdiger Carl, sich (zusätzlich) nach neuen Labels für ihre weiteren Produktionen umzuschauen. Der Maschinenpark, Mikrofone, Aufnahmegeräte etc., wurde an das Podewil verkauft, ab 2000 wollte Gebers die Archivierungsarbeiten des kaum überschaubaren Materialbergs (Fotos, Programmhefte, Poster, unzählige Bänder, hunderte Belegexemplare von Rezensionen) beginnen.

Er ahnte nicht, dass sich Helma Schleifs Distributions- und Kommunikationsfirma binnen eines Jahres gegen den Verlag verselbständigte und auch das korrekt abgewickelte Total-Music-Meeting eine unglückliche Rolle spielen sollte. Um es kurz zu machen: Helma Schleif verband offensichtlich mit der Vertriebsübernahme weiterreichende Pläne, die Illusion, durch diese Übernahme auch das ganze Label - inklusive seines Festivals - zu erben. Das stand im Gegensatz zu allen Abmachungen und Absprachen und brachte den geordneten Rückzug Gebers’ an den Rand des Chaos.

Für November 2000, das Chaos war noch nicht ausgebrochen, ließ sich Gebers nach Gesprächen mit jüngeren Musikern wie Gregor Hotz und Olaf Rupp breitschlagen, ein TMMcompact zu organisieren, eigenfinanziert durch den Eintritt und mittlerweile ohne städtische Förderung auskommend, weil es ja keine Firma Free Music Production mehr gab - übrigens ein sehr gelungenes, ungezwungenes, vom Flair des Spontanen und dem Enthusiasmus der Musiker lebendes Happening, viele junge Gesichter, ein paar alte Helden. Vielleicht das beste TMM seit dem 25. Jubiläum 1992. Heute bereut Gebers diese Entscheidung, denn diese Compact-Version ließ - böswillig interpretiert - seine Entscheidung, seine Firma aufzulösen und damit auch die finanzielle Förderung des TMM zu beenden, als kurzsichtig, verbohrt und selbstherrlich erscheinen.

Ab 2001 führte Helma Schleif ihr eigenes Total Music Meeting, zunächst weitgehend ohne Förderung, fort. Das hatte zwar nichts mehr mit FMP zu tun, zehrte aber von der Geschichte und vereinnahmte auch einige Musiker aus dem alten FMP-Pool. Wer sich 2001 und 2002 am Rande dieses Festivals aufhielt, an den Bier- und Wein-Theken im Podewil, bekam eine ganze Ladung böser Flüche und Verwünschungen mit: Warum nur hat Gebers das Festival eigenmächtig den Saft abgedreht! Dass das Festival an die Existenz der Firma FMP gebunden war, dass es diese Firma nicht mehr gibt, dass Gebers durch die Ankündigung seine Rückzugs im Gegenzug Planungssicherheit für einige noch voll finanzierte Festivals bekam, dass seinen Rückzug und dessen Konsequenzen gegenüber Vertrauten und langjährigen Mitstreitern ankündigte: diese Feinheiten der Realität fanden im Umfeld der vermeintlichen TMM-Erben kein Gehör.

Auf der geschäftlichen Seite lief der Vertrieb nicht wie gewünscht und erwartet - Helma Schleif hielt sich nicht an Abmachungen, ließ die CDs, die der Verlag ihr zur Produktion vorlegte, mit missverständlichen und unkorrekten Angaben drucken, die suggerierten, dass ihr Vertrieb identisch mit dem Label sei.

2003 zog Gebers, der inzwischen auch aus seinem Brotjob ausgeschieden war, in die westfälische Provinz nach Borken, wo bereits schon lange Jahre der Verlag seinen Sitz hat. Im Februar 2003 kündigte der Verlag den Lizenzvertrag mit Helma Schleif fristlos, was eine zähe juristische Auseinandersetzung zur Folge hatte, die aber in jeder Instanz für FMP-Publishing erfolgreich verlief. Der Preis - nicht der finanzielle, der künstlerische! - war hoch. Die Produktionen, die Gebers und der Verlag Helma Schleif zum Vertrieb vorlegten, wurden nicht ansatzweise zufriedenstellend vertrieben, einige lehnte Schleif vertragswidrig ab. Ende 2004 stellte Gebers seine Produktionstätigkeit ganz ein. Erst 2007 konnte und wollte er sie wieder aufnehmen.

Diese Jahre sind verloren. FMP war von der Bildfläche verschwunden. Das Comeback im Herbst 2007 war durchaus mühevoll und vom Produzenten kaum herbeigesehnt, es dauerte mindestens noch ein Jahr, bis sich in der Szene und bei der Presse herum gesprochen hatte, dass FMP sehr wohl noch aktiv ist.

Viele FMP-Produktionen sind zwischenzeitlich auf anderen Labels wiederveröffentlicht worden, fast alle Urgesteine des Labels konnten ihre ohnehin eindrucksvolle Diskographie dank Labels wie Atavistic, Okka, Eremite oder Intakt angemessen erweitern. Junge Improvisatoren sind, wie gesagt, gar nicht mehr auf FMP angewiesen (aber es hilft, sich in Abständen, aber dann genau!, der Geschichte zu vergewissern). Das wirkliche Ende von FMP - das Ende ohne schlechten Beigeschmack - ist in Wirklichkeit eine Aufhebung. Die Geschichte dieses Labels spiegelt sich nicht nur in den Musikerbiographien, sondern in der Musik selbst. Man muss nicht bei jeder neuen Brötzmann-Produktion auf, sagen wir, Atavistic bierselig-metaphysisch jubeln: FMP lebt. Aber solange es Free Jazz und Improvisierte Musik geben wird (und wieso sollten diese Musiken auch verschwinden?), solange werden sie auch von der Geschichte leben, die FMP vierzig Jahre akkumuliert und fruchtbar gemacht hat.


1) Jost Gebers und die Musiker aus dem engen Kreis haben für ihre mehrtägigen Veranstaltungen den Begriff »Festival« stets abgelehnt. Im Gegensatz zu den üblichen Jazz-Festivals sollten die Veranstaltungen der FMP keine Stars und keine Hypes präsentieren, sondern Gruppenprozesse abbilden (und beschleunigen), den jeweiligen Stand der Improvisation dokumentieren. Aus diesem Grund passt wohl der Begriff des Anti-Festivals besser.
2) Jost Gebers im Gespräch mit Markus Müller, Jazzthetik Nr.12/1992-1/1993, im Netz abrufbar unter http://www.fmp-label.de/freemusicproduction/index.html, Menüpunkte: »history«, »texte«.
3) Über die Jahre haben sich Workshop und TMM konzeptionell angenähert.
4) Jost Gebers im Gespräch mit Markus Müller, a.a.O.
5) Paradigmatisch: Carls Interpretation von Sanders’ »Aum« auf seine Akkordeon-Solo-LP »Vorn« (1986 / FMP 1110).
6) »Bis vor kurzem wurden nicht von Deutschen geleitete Projekte (zusammen mit diversen Nicht-Ganz-Free-Jazz-Platten und anderen Merkwürdigkeiten) vorsichtshalber auf das Schwesterlabel SAJ verbannt, eine verwirrende und den grenzüberschreitenden Idealen der Improvisation unwürdige Trennung, die mit dem Beginn der CD-Ära nun endlich beendet wird.« Steve Lake, aus einem Katalog der FMP 1991/92, im Netz abrufbar unter http://www.fmp-label.de/freemusicproduction/index.html, Menüpunkte: »history«, »texte«.
7) Das Zitat Lieflands findet sich als Motto zu einem Labelporträt von Achim Forst (1981). Im Netz abrufbar unter http://www.fmp-label.de/freemusicproduction/index.html, Menüpunkte: »history«, »texte«.
8) So ein Stücktitel Alexander von Schlippenbachs. Der Titel bezieht sich auf sein Duo mit Sven-Åke Johansson, passt aber erst recht auf sein Trio/Quartett.
9) Jost Gebers im Gespräch mit Markus Müller, a.a.O.
10) Hans Jürgen Schaal in Neue Zeitschrift für Musik, Nr.9/1990, im Netz abrufbar unter http://www.fmp-label.de/freemusicproduction/index.html, Menüpunkte: »history«, »labels«, »FMP Records«, »FMP 1250», »Rezensionen/Reviews«.
11) Die Grenzen sind natürlich fließend: Paul Lovens, Hans Reichel und Wolfgang Fuchs sind alle Jahrgang 1949, aber Lovens taucht schon 1969 in die Szene ein, Reichel 1970/71. Zählen wir sie also zur ersten. Wolfgang Fuchs debütiert erst 1978 auf FMP, gehört also zur zweiten.
12) Dazu auch Steve Lake: »Die erste Musikergeneration hatte den Schock des Neuen. Ungewohnten auf ihrer Seite.«, »21 Jahre FMP« in Jazzthetik 3/1990, im Netz abrufbar unter http://www.fmp-label.de/freemusicproduction/index.html, Menüpunkte: »history«, »texte«.
13) FMP CD 53. Die Pointe besteht aber darin, dass Brötzmann selbst sich für die für ihn riskante Stückauswahl entschieden hat! Brötzmann geht in eigenen Linernotes denn auch direkt auf Lake ein: »Eigentlich bin ich immer bereit gewesen, mich dem (sanften) Druck meiner Mitspieler zu beugen, wenn ich den Eindruck hatte, es dient der Sache. Ich habe mich sicherlich - gerade wegen Fred und Rashied - auf ein mir nicht vertrautes Terrain gewagt und meine Art und Weise Balladenhaftes zu spielen ist zuweilen holprig, unbeholfen obwohl das - wie ich finde - durchaus seinen Reiz hat. (…) Ich hoffe, es ist keine Gotteslästerung, wenn ich Coltrane widerspreche, wenn er von einem ›gemeinsamen Reservoir‹ redet. Das hat es nie gegeben. Ich denke jeder hat sein eigenes unterschiedliches, begrenztes. Und jeder sollte versuchen - mit soviel Distanz wie möglich zu sich selbst - das fühlbar und hörbar zu machen.«
14) Die Aufnahmen werden folglich auch nicht auf FMP erscheinen, sondern auf einem anderen Label, »Olu Iwa« (Soul Note SN 1139, 1986).
15) Als »Nachspiel« erschien zudem eine Doppel-CD mit Aufnahmen Taylors aus Ostberlin.
16) 1999 gab es einen bizarren Nachklapp, den niemand verstand, außer, und das ist bitte nicht als Lobhudelei zu verstehen, Jost Gebers, der aus einem karnevalesk-ulkigen Quartett-Auftritt tatsächlich die Strecken herauspräparierte, die es wert sind, auf CD dokumentiert zu werden. Siehe die CD Cecil Taylor Quartet, »Incarnation« (FMP CD 123). Das Coverfoto steuerte übrigens Günter Christmann bei.
17) Jost Gebers im Gespräch mit Markus Müller, a.a.O.

aus: Buch der Spezial Edition FMP im Rückblick

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