18. September 2011

News 27 (Laudatio)

NewsIndex


Markus Müller

Peter Brötzmann:
Laudatio zum Albert Mangelsdorff-Preis 2011
(Deutscher Jazz Preis)

Peter Brötzmann, vielen Dank für die Möglichkeit heute hier, anlässlich der Verleihung des Albert-Mangelsdorff-Preises 2011 an Dich, sprechen zu dürfen. Der Dank gilt natürlich auch Jost Gebers, der mich zuerst gefragt hat, ob ich mir vorstellen könne, das zu übernehmen.

Ich glaube, Ihr macht das seit 1969 so, Peter Brötzmann steht auf der Bühne, bekommt die Preise und Jost Gebers macht die ganze Arbeit!

Peter Brötzmann hat keinen Preis mehr nötig und auch keine Laudatio. Aber er hat sie verdient. Die Preise jedenfalls. Im wahrsten Sinne des Wortes verdient und falls es noch einen Preis geben sollte, den er noch nicht bekommen hat, dann bitte ich die Verantwortlichen doch schnell, am besten jetzt gleich, vielleicht direkt im Anschluss, nach vorne zu kommen und das zu erledigen, es kann nur noch einen oder zwei geben, die offen sind, Peter, das geht schnell.

Es hat seine Zeit gedauert. Bis die Preise einfach so ins Haus purzelten, einer nach dem anderen, in die Obergrünewalder Strasse. Klar. Ist ja auch eine Einbahnstrasse.

Anfangs gab es keine Preise. Anfangs war Peter Brötzmann ein junger Mann aus Remscheid, der von dort weg in die große Stadt wollte, nach Wuppertal. Diese Geschichte spielt ja, für die Jüngeren hier unter uns, in der Zeit vor der so genannten Wiedervereinigung. Die BRD war noch kleiner und es kommt mir heute so vor als hätte die Entscheidung die Provinz, also Bonn zur Hauptstadt zu machen, zur Folge gehabt, dass es mehrere interessante kulturelle Zentren gab, und man dort auch regelmäßig hinfuhr. Köln zum Beispiel galt als Zentrum der kontinentaleuropäischen Musik- und Bildenden Kunstwelt. Kontinentaleuropa ist größer als das Rheinland und man meinte ja tatsächlich, Paris hinter sich gelassen zu haben. Wuppertal war vieles damals, zum Beispiel nicht weit von Köln und an wichtigen Autobahnen gelegen.

Brötzmann ging also Ende der 50er Jahre nach Wuppertal an die Werkkunstschule, begann mit Malerei, lernte Gestaltung und Graphik und spielte nebenbei Musik. So begann eine, alles in allem, eher unwahrscheinliche Reise. Eine Reise, die Peter Brötzmann, der mit 14 Jahren angefangen hatte, in Remscheid Klarinette zu lernen, dort später als Autodidakt in Dixieland-Kapellen spielte, die sich dann wohl auch für Swing und Bebop interessierten, von Wuppertal aus ab den frühen 60er Jahren in die Welt hinaus führte. Und dort verschaffte er sich in der ihm eigenen, recht unverwechselbaren Weise Gehör. Dass ihn irgendwann auch Bill Clinton gehört und als einen der für ihn wichtigsten, lebenden Saxophonisten bezeichnet hat, tja, Peter, auch damit musst Du jetzt zu Recht kommen.

Ich werde versuchen, einige ausgewählte Stationen dieser Reise zu kommentieren, notwendigerweise werde ich dabei Auslassungen zu verantworten haben und, für manche hier vielleicht noch irritierender, ich werde Dinge sagen, die wahrscheinlich schon viele Male aus berufenerem Munde gesagt worden sind.

Wuppertal war zu der Zeit in den frühen 60er Jahren auch eine Stadt, in der Kunstgeschichte geschrieben wurde. Die Galerie Parnaß richtete zum Beispiel im Frühjahr 1963 Nam June Paik seine erste Einzelausstellung unter dem Titel: Exposition of Music - Electronic Television ein und diese Ausstellung war eine internationale Sensation, auch ein gehöriger Skandal und es gibt ein Foto von der Anlieferung eines Ochsenkopfes, der die Besucher im Eingang der Ausstellung damals begrüßte. Die FAZ hat das später so beschrieben:
„Das Foto aus dem Bestand des Zentralarchivs zeigt die Anlieferung des Ochsenkopfs, der, präpariert mit Schnüren, soeben im Eingangsbereich der Galerie Parnass aufgehängt wurde. Der Bauer in der Mitte hält das lange Ende der Schnur in der Hand. Rechts von ihm nähert sich Nam June Paik, vermutlich mit einem Messer, um das restliche Ende der Schnur zu kappen. Auf der Treppe links sitzt der Künstler Peter Brötzmann, damaliger Assistent von Nam June Paik; der Mann mit der Baskenmütze rechts von ihm betrachtet das Geschehen mit Skepsis, während die Mitarbeiter des Architekturbüros Jährling in den weißen Kitteln dies alles hingegen für einen Scherz zu halten scheinen.“ 1)

Das war Peter Brötzmann 1963, ein Künstler, der auch Musik machte. Und ein Künstler, der als Assistent von Nam June Paik, mitten in den interessantesten Prozessen der neuesten Kunst war. Zwei Jahre nach dieser Ausstellung folgte das berühmte 24-Stunden-Happening und zwei Jahre danach nahm Peter Brötzmann mit seinem Trio seine erste eigene Schallplatte auf: For Adolphe Sax. Das Peter Brötzmann Trio bestand aus dem verstorbenen Peter Kowald (Deutscher Jazzpreis 1995) und Sven-Åke Johansson. Die Legende will es, dass Brötzmann und Kowald in Brüssel nach einem Gig, Sven-Åke Johansson, der dort gestrandet war und mit seinem Lastenfahrrad sein Schlagzeug durch den Park radelte, kennen lernten und nach Wuppertal einluden. Johansson fuhr mit seinem Fahrrad über alle Grenzen und zum Teil über die Autobahn hin und wurde Wuppertaler. 2) Mit den beiden also nahm Brötzmann For Adolphe Sax auf und veröffentlichte es auf seinem eigenen Label, BRÖ. Wieder ein Jahr später, 1968, folgte Machine Gun, ein Oktett in dem das Trio um Willem Breuker, Fred Van Hove, Evan Parker, Buschi Niebergall und Han Bennink ergänzt wurde. Mit diesen beiden Platten hat Brötzmann im Alleingang die Möglichkeitsformen selbst bestimmten Arbeitens für europäische Musiker erweitert. Er war es, allein auf sich gestellt, er hatte als einziger nicht nur den Mut, die Musik zu machen, die er machte, sondern auch den Mut, sie auf eigene Verantwortung und Kosten auf seinem eigenen Label zu veröffentlichen. Niemand sonst machte das, alle anderen Weggefährten veröffentlichten zunächst auf Labels wie Calig oder SABA oder Columbia usw. Alle anderen zeitgleichen Initiativen, die Gründung des InstantComposers Pool in den Niederlanden 1967 durch Mengelberg, Bennink und Breuker oder Incus 1970 durch Bailey, Oxley und Parker, waren kollektive Initiativen.

In der Zeit zwischen 1963 und 1967 wurde also, in engem Schulterschluss mit der Bildenden Kunst, mit Fluxus und den Folgen, das erfunden, was man später die europäische frei improvisierte Musik genannt hat. Da waren zahlreiche Protagonisten beteiligt, einige habe ich genannt, die Gründung des Globe Unity Orchestras 1966 ist ein weiteres wichtiges Ereignis, entstanden durch Zusammenschluss des BrötzmannTrios und des Manfred Schoof-Quintetts. Die Schoof-Besetzung: Dudek, von Schlippenbach, Niebergall und Liebezeit, das waren übrigens die Kölner, die sich zum Beispiel beim Studium bei Bernd Alois Zimmermann kennen gelernt hatten und also akademisch geprägt waren und zunächst über Brötzmann und sein Spiel gelacht haben. Das änderte sich erst nachdem Brötzmann 1966 in Paris mit Don Cherry, Gato Barbieri, Karl Berger und Aldo Romano (das war die Zeit der beiden legendären Blue Note LPs Complete Communion und Symphony for Improvisers) ein paar sehr erfolgreiche Auftritte gehabt hatte und sich dieser Erfolg herumsprach. Brötzmann brauchte also, wie viele, den internationalen Umweg, um anzukommen und zumindest in der Gruppe seiner unmittelbaren Zeitgenossen akzeptiert zu werden. Und in der Folgen waren es in Deutschland die Kölner, die Wuppertaler und die Berliner (Jost Gebers, Rüdiger Carl u.a.) die mit der FMP zu einer der treibenden Kräfte der jungen, frei improvisierenden Musikszene wurden. 1968 gab es das erste Total Music Meeting in Berlin, 1969 den ersten Workshop Freie Musik in Berlin. Beides mit Brötzmann. 1969 gründete Jost Gebers auf Initiative von Peter Brötzmann die Firma Free Music Production, später als FMP abgekürzt. Nach viel Überredung und Einsatz erweiterte sich FMP 1972 zum Kollektiv, Brötzmann, Jost Gebers, Peter Kowald, Detlef Schönenberg und Alexander von Schlippenbach machten es bis zum Frühjahr 1976 gemeinsam, danach war Gebers alleinverantwortlich. Die FMP ist natürlich in vielerlei Hinsicht durch Brötzmann geprägt worden, nicht zuletzt auch durch seine Cover-, Poster- und Flyer-gestaltung und seine unglaublich genial einfache, stilbildende handgemachte Grafik, Aspekte seiner Arbeit, die meines Erachtens immer noch unterschätzt werden. Die FMP war meines Erachtens immer auch eine Überlebensgemeinschaft, sie hat ein Modell erfunden, wie man in dieser Zeit und zu seinen eigenen Bedingungen Musik verlegen und Musik veranstalten konnte und dieses Modell existierte hier so lange und so erfolgreich wie nirgendwo. Dies muss auch erwähnt werden, weil es eben zum Lebenswerk von Brötzmann gehört, dass er zunächst den Mut hatte, es selbst zu machen und sein eigenes Label BRÖ gründete und dann in die solidarische Idee der FMP-Organisation mit ihren Standbeinen Plattenproduktion und Konzert- bzw. Festivalveranstaltung einzahlte, über viele, viele Jahre hinweg.

Wenn man jetzt heute einem 70jährigen Weltmusikbürger zum Deutschen Jazz Preis gratuliert dann scheinen das Leben und die Karriere, auch angesichts der Tatsache das 1963 schon eine ganze Weile her ist und man weiß, dass es Brötzmann seit über 15 Jahren gelingt, etwas auch ökonomisch und organisatorisch so komplex-kompliziertes wie ein Chicago Tentet um die Welt zu schicken, ja, dann scheinen dieses Leben und diese Karriere eine Erfolgsgeschichte zu sein, eine schöne Reise auf einem ganz angenehmen Traumschiff, von Wuppertal aus mehrmals um die ganze Welt.

Tatsächlich ist die Geschichte alles andere als ein linear nacherzählbarer Erfolgsverlauf. Und dass Brötzmann anfangs von Kollegen belächelt wurde, war nur die Spitze des Eisberges. Es wäre jetzt nicht angemessen, von Prüfungen biblischen Ausmaßes zu sprechen, aber es ist wichtig festzustellen, das es 1967, ich nehme jetzt das Datum der Aufnahme von For Adolphe Sax als Zäsur, fraglich war, was weiße Mitteleuropäer eigentlich substantiell zum afroamerikanischen Jazz beitragen können, was Improvisation an sich für einen Wert haben soll und was ihre Aufnahme und Veröffentlichung auf Schallplatte bedeutet, (noch 1988 schrieb Peter Niklas Wilson über eine FMP Veröffentlichung, Transition von Becker, Sclavis und Lindberg, dass sie geeignet sei zu zeigen, dass improvisierte Musik auch als Konserve überzeugen kann), was Selbstbestimmung von MusikerInnen sein soll, was die Entgrenzung der Künste bedeutet und wie sie bewertet werden soll.
Diese ganze binnenmusikalische Diskussion musste dazu mit einem allgemeinen Klima sauertöpfischen Restfaschismusses rechnen und die Spießigkeit der 60er Jahre ist eine denkbar merkwürdige Folie für die Ereignisse im Wuppertal der entscheidenden frühen 60er.

Die Kritik an dieser neuen Musik konzentrierte sich immer wieder auf Brötzmann selbst. Bekannt ist die durchaus bitterböse, ernst gemeinte Beschreibung der Atmosphäre beim Globe Unity Orchestra Auftritt bei den Berliner Jazztagen 1966: „ein Hexenkessel, bei dem Peter Brötzmann den Part des Leibhaftigen spielte.“ 3) Außer Brötzmann hat vielleicht nur noch Rainer Werner Fassbinder derart ungefiltert den undiskreten Charme des Bourgeoisiezorns zu spüren bekommen. Die nicht aus der Welt zu argumentierende Festschreibung wurde sehr schnell zur so genannten Kaputtspielphase ausgebaut und Brötzmann wird teilweise bis heute durch die Behauptung dieses Vorverurteils abgekanzelt. So will ich auch nicht ersparen darauf hinzuweisen, dass bei den unvergesslichen Diskussionen zum ersten DeutschenJazz Preis, Albert Mangelsdorff-Preis, im Jahre 1994, der Vorschlag Peter Brötzmann, und wenn mich meine Erinnerung als ehemaliges Jurymitglied nicht täuscht, dann kam dieser Vorschlag seinerzeit von Manfred Schoof, als indiskutabel ganz, ganz schnell vom Tisch gefegt wurde. Jedenfalls habe ich selbst damals, mea maxima culpa, und nur das Schreiben dieser Laudatio hat mich dazu gebracht, meine Tagebücher nachzulesen, also ich selbst habe damals als eine Art Realo-Bremser gedacht: „Richtig wärs ja, aber ist es realistisch, das beim ersten Mal durchzusetzen?“

Das soll meine Freude und Unterstützung über die damalige Entscheidung, Alexander von Schlippenbach zu ehren, bitte in keiner Weise relativieren. Aber 1994 war der Preisträger Peter Brötzmann jedenfalls nicht durchzusetzen. Die Tatsache, dass er allerdings 1971 bereits den Förderpreis des Wuppertaler von-der-Heydt-Preises bekam, zeigt, das seine Arbeit umkämpft und umstritten war, diese Kämpfe sich aber auch schon in den frühen Jahren manchmal zu Brötzmanns Gunsten ausgingen.

Der unmittelbare Auslöser der aggressiv-obsessiven Ablehnung von Peter Brötzmann muss in einem bestimmten Aspekt seines Spiels begründet sein. Wer es noch nie gehört hat, dem kann schon durch die Unmittelbarkeit der sehr, sehr, sehr physischen Erfahrung der Ästhetik des Schreis, die Brötzmann in der Tradition der amerikanischen Saxophonisten von Illinois Jacquet, John Coltrane, Albert Ayler bis Pharoah Sanders weiterentwickelte, Angst und Bange werden. Dieses Brötzen, wie es heute heißt, ist eine der letzten Erschütterungen bürgerlicher Wahrnehmungsgewohnheiten und -konventionen. Man kann sich auch heute noch gut vorstellen, wie in der Welt der Ekel Alfreds oder der distinguierten Jazzfans die Kinnladen herunterratterten, wenn statt des Modern Jazz Quartets das Altsaxophon von Peter Brötzmann erklang. Tatsächlich hat Brötzmann allerdings schon seit 1968 immer auch andere Elemente in sein Spiel integriert. Vom Rock’n’Roll-Riff, das wie ein außerordentlich weißer Wal in Machine Gun auftaucht, bis zu den Vogelstimmen in der Schwarzwaldfahrt. Die verschliffenen, rasend schnellen Tonfolgen und Staccato-Läufe, aufgrund derer Don Cherry Brötzmann Machine Gun nannte, wurden sehr früh mit durch und durch existentiell romantischen lyrischen Läufen und extremen Rücknahmen der Dynamik kontrastiert. Die Qualität der Intensität, die Brötzmann allerdings immer auch für leise Passagen realisiert wissen will, lässt sich in seinem Fall über eine ungewöhnliche Bandbreite sehr unterschiedlicher Musiken verfolgen.

Brötzmann hat mit BRÖ und dann später mit der FMP sehr früh an der Idee der selbst bestimmten Produktion gearbeitet. Für sich und für andere. Und Brötzmann hat immer schon sehr weit über seinen Tellerrand hinaus musiziert. Er hat die Grenzen zwischen europäischer und amerikanischer, zwischen improvisierter und komponierter Musik permanent überschritten. Und er hat sehr gezielt andere Musiker aus anderen Ländern eingeladen mitzumachen. In den Anfangsjahren haben sich Kowald und Brötzmann das klar aufgeteilt, Kowald war für England zuständig, Brötzmann für die Niederlande und dann haben sie die Netze ausgeworfen und nach Wuppertal eingeholt. Und die Qualitäten seines Spiels wurden schnell von vielen Kollegen erkannt: 1969 hat Brötzmann die neutönende Maurizio Kagel Komposition Ein Aufnahmezustand I mit eingespielt, Anfang der 70er Jahre hat er mit seinem Trio immerhin 3 LPs mit Albert Mangelsdorff veröffentlicht, der damals schon, 1958 war er zum ersten Mal nach Newport eingeladen, einer der wenigen Europäer mit internationaler Ausstrahlung war. Ende 1971 hat er an einer Produktion von Don Cherry und Krzysztof Penderecki für Donaueschingen teilgenommen. 1979 und 1980 macht er zwei Produktionen mit den Südafrikanern Louis Moholo und Harry Miller, in denen Brötzmann ganz neue melodische Kontinuität entwickelt hat, seine Improvisationen, wie Ekkehard Jost das treffend genannt hat, „sanglicher“ wurden. 1981 gab es eine Produktion mit Michael Nyman, 1985 spielte Brötzmann mit Hugh Davies, dem englischen Live-Elektroniker, den er (wie auch Michel Waisvisz) spätestens seit dem Workshop Freie Musik 1979 kannte, beim Total Music Meeting zusammen, eine Zusammenarbeit, die er, wie er selbst sagt, gerne fortgesetzt hätte. 1986 gab es die erste Produktion mit Cecil Taylor. 1986 war auch das Jahr in dem Last Exit begann, die erste und einzige Supergroup der improvisierten Musik. Während alle Welt über den Megaproduzenten Bill Laswell schimpfte, gründete Brötzmann mit ihm, Ronald Shannon Jackson und Sonny Sharrock ein Ensemble das elektroakustische Wirbelstürme produzierte und bis heute Maßstäbe setzt. Brötzmann hatte und eben mehr als Andere, außerordentliche integrative Potentiale und das unerschütterliche Selbstbewusstsein, sich auch in fremden Klangwelten behaupten zu können. Nach der Last Exit-Erfahrung ging die radikale Elektrifizierung im Duo mit dem Sohn und E-Gitarristen Caspar und dem ersten Peter Brötzmann Tentett, der März Combo, die anlässlich Brötzmanns 50sten Geburtstags u.a. in Wuppertal aufspielte, weiter. Er selbst schätzt dieses ungewöhnliche Experiment als wenig erfolgreich ein. Neben den beiden Gitarristen Caspar Brötzmann und Nicky Skopelitis spielten zum Beispiel Larry Stabbins (der in den 80ern mit Working Week in den Popcharts war) und Werner Lüdi, der nach 20 Jahren Pause wieder zur Freien Musik zurück kam. Ich selbst habe ganz gute Erinnerungen und Freunde von mir empfanden das damals als eine Art Erweckungserlebnis. Für Brötzmann waren die frühen 90er auch aus persönlichen Gründen eine Prüfung: „Ich“, sagt der heute staubtrockene Brötzmann, „ich habe zuviel getrunken in der Zeit.“ 4)

Das alles ist jetzt wiederum 20 Jahre her und die beiden wichtigsten Projekte die Peter Brötzmann meines Erachtens seitdem umgesetzt hat, sind zum einen:
Die Like a Dog, das Quartett in Hommage an Albert Ayler mit Toshinori Kondo, Hamid Drake und William Parker. Das wichtigste Quartett der 90er Jahre. Wenn Brötzmann zu Drakes Tablas Bassklarinette spielt, dann hat das mehr mit Johnny Hodges und Jimmy Giuffre zu tun, also kontrolliert lyrischem Spiel, als mit dem Urschrei. Und diese außerordentliche Liebevollizität in Brötzmanns Spiel, die sich seit 1976 auch immer wieder auf seinen Soloplatten findet, wird durch Kondos Trompetenverfremdungseffekte noch gesteigert.

Zum zweiten gibt es seit 1997, also seit fast 15 Jahren das Chicago Tentet und seit dem ist Brötzmann auch in Amerika ein Star und auf Initiative von John Corbett wurden frühe Produktionen wie Nipples nicht nur neu aufgelegt, sondern auch in tausender Stückzahlen verkauft. Das Tentet ist ein sich immer noch entwickelnder Klangkörper, der zu Anfang sehr stark auf komponierten Strukturen basierte und sich mittlerweile vertrauensvoll eigendynamisch autopoetisch generiert. Gleichzeitig scheinen sich in diesem Chicago Tentet die Wuppertaler Erfahrungen der 60er Jahre auf interessante Weise auch und gerade bis in die Produktionsbedingungen hinein bezahlt zu machen. Es ist da ein transatlantisches Kollektiv entstanden und die amerikanischen Kollegen einer neuen Generation machen Chicago ganz erfolgreich zum Wuppertal ihrer Zeit.

Einige von Ihnen haben vielleicht die Auftritte in Wuppertal im April diesen Jahres gesehen, ich leider nicht, aber was berichtet wurde ist, das die Funken geschlagen haben.

Wenn man mit 70 immer noch auf der Bühne steht, dann bleibt es nicht aus, dass die Mitspieler nicht immer im gleichen Jahr geboren sind. Die Kollegen von Sonore, einem aktuellen Trio mit Mats Gustafsson und Ken Vandermark sind fast 30 Jahre jünger, die Kollegen von Full Blast, einer großartigen Band, mit der Peter Brötzmann auch schon seit 2004 zusammen spielt und die wir gleich im Anschluss hören, die Kollegen Michael Wertmüller am Schlagzeug und Marino Pliakas am Bass, sind ebenfalls fast 30 Jahre jünger. Und bei Full Blast ist der Name zweifellos Programm, ich habe jedenfalls Konzerte gehört, in denen Full Blast die gesamte Bandbreite von Dynamik sehr prononciert ausschöpft und dabei die Spannung hält. Denn, wie Peter Brötzmann sagt, „die Spannung muss schon da sein und dann muss es auch losgehen“. 5)

Peter Brötzmann hat das Beste, was man über die Seele und die Soziologie eines Mitteleuropäers im 20. und 21. Jahrhundert sagen kann, auf Holzblatt-Blasinstrumenten gesagt. Er hat das mit Herz, mit Witz, sehr viel Witz, mit zärtlicher Liebeswürdigkeit und bestimmtem Nachdruck getan. Mir bleibt nur noch, in Entlehnung eines klassischen John Zorn-Titels, auszurufen:

Jazz Snob: Eat Shit!

Peter Brötzmann: Ein halber Hund kann nicht pinkeln.
Danke, dass Du uns allen das in den letzten 46 Jahren so eindringlich klar gemacht hast!


Quellen
1) Schamanen in Wuppertal und ein Verstoß gegen das Kadavergesetz,
in FAZ, Kunstmarkt Spezial, 27. 10. 2005, zitiert nach:
http://www.faz.net/artikel/S31680/serie-schamanen-in-wuppertal-und-ein-verstoss-gegen-das-kadavergesetz-aus-dem-zentralarchiv-30-30097267.html
2) Peter Brötzmann im Interview mit dem Autor, 29.06. 2011, unveröffentlicht.
3) Thomas Loewner: Peter Brötzmann, in: Jazz Klassiker, Stuttgart 2005, S. 660.
4) Gespräch mit dem Autor, s.o.
5) Gespräch mit dem Autor, s.o.

Markus Müller 

Fotos: Dagmar Gebers (2011)